Bulgarien: Von der goldenen Tech-Legende zur Call-Center-Hölle

Unter dem Deckmantel des dynamischen Image der Wirtschaft des „Silicon Valley Südosteuropas“ ist Bulgarien seit den 2000er Jahren zu einem der attraktivsten Länder für Outsourcing geworden. Zehntausende von Beschäftigten im Kundenservice sind dort sozusagen unsichtbar – sie sind harten Arbeitsbedingungen ausgesetzt, ohne jegliche Unterstützung durch die Gewerkschaften.

Veröffentlicht am 27 Juni 2024 um 12:10
Dieser Artikel ist unseren Abonnierenden vorbehalten

Wie in den meisten anderen Ländern mit einer sozialistischen Vergangenheit ist die Entwicklung der bulgarischen Wirtschaft seit 1989 durch eine erhebliche Deindustrialisierung und das Erstarken des Dienstleistungssektors gekennzeichnet. Er beschäftigt heute mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer*innen des Landes, 57,66 % im Jahr 2022.

Dieser Sektor wird durch verschiedene Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Tourismus und der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) belebt. Während das Wegbleiben der russischen Besucher*innen berechtigte Sorgen um die Resorts am Schwarzen Meer schürt, ist die IKT eindeutig im Aufwind, insbesondere in der bulgarischen Hauptstadt Sofia, wo sogar der Bürgermeister Vassil Terziev (Wir setzen den Wandel fort – Demokratisches Bulgarien, Mitte-Rechts) aus der Tech-Welt stammt.

Der IKT-Sektor genießt ein positives Image. Es wird durch die Erfolgsgeschichten einiger Gründer*innen genährt, deren Werdegang das ganze Gegenteil der Atavismen des bulgarischen Homo Sovieticus zu sein scheint: „Gehorsam, fantasielos, unfähig, Initiative zu ergreifen oder mit Kunden zu kommunizieren“, so die Anthropologin Tsvetelina Hristova.

Auch der Kontrast zwischen der vermeintlichen Modernität von größtenteils entmaterialisierten Tätigkeiten und der Schwerfälligkeit der öffentlichen Verwaltung wird verschärft. Mehrere Pläne zur Digitalisierung und Modernisierung der Verwaltung wurden übrigens seit 2015 in Angriff genommen. Innerhalb von zehn Jahren ist Sofia so zu einer Stadt der Kontraste geworden, in der brandneue Teslas durch Wohnviertel fahren, in denen die Bewohner*innen noch mit Brennholz heizen.

Einige Start-ups sind bereits international oder zumindest kontinental bekannt – allen voran Payhawk, Bulgariens erstes „Einhorn“ (Start-up mit einem Wert von über einer Milliarde US-Dollar, das keine Tochtergesellschaft eines großen Konzerns ist und nicht an der Börse notiert ist). Das Land hat sich vor allem in den Bereichen Deeptech (neue innovative Technologien), Fintech (neue Technologien im Finanzsektor) und künstliche Intelligenz einen guten Ruf erarbeitet.

Mit seinen 40.000 Quadratmetern am Rande des Vitosha-Berges ist der Sofia Tech Park die erste und größte Fläche auf dem Balkan, die ausschließlich dieser Wirtschaft gewidmet ist. Er profitiert von einer großen Investition aus privaten Mitteln und vom bulgarischen Staat, der darin die Chance sieht, mehr als 15.000 direkte Arbeitsplätze zu schaffen.

Doch hinter dem Storytelling des „Silicon Valley of Southeastern Europe“ – wie das US-Handelsministerium Bulgarien bezeichnet – verbirgt sich eine weitaus komplexere Realität, denn der Sektor besteht aus einer großen Zahl ausländischer Unternehmen, die Outsourcing betreiben: insgesamt 802 im Jahr 2023, so der Verband AIBEST (Association for Innovation, Business Excellence, Services and Technology). Diese Unternehmen lagern alle Arten von Tätigkeiten aus: Produktion, Verwaltung, Marketing, Rechtsabteilung, Kundenbetreuung und -unterstützung. 

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie Journalismus, der nicht an Grenzen Halt macht.

Nutzen Sie unsere Abo-Angebote oder stärken Sie unsere Unabhängigkeit durch eine Spende.

Zum gleichen Thema