Diskret wie die Eurokraten in Athen

Ihre Aufgabe: Die Griechen wieder auf den rechten finanziellen Weg bringen. Ihre Methode: Gewohnheiten umstoßen und Opfer verlangen. Das Resultat: Sie sind der Sündenbock für alle, die sauer auf die EU sind.

Veröffentlicht am 9 April 2012 um 09:11

Auf der einen Seite geht das Fenster auf die Ruinen der Akropolis und auf die Gerüste des Archäologenteams, das über diesen Schmelztiegel der europäischen Kultur wachen soll. Auf der anderen Seite zeigt einer der beiden Bildschirme, auf welchen Iannis Siatras die Börsenkurse verfolgt, zwischen zwei Notierungen das Bild, das zum Symbol des gemeinschaftlichen Diktats und der Verachtung geworden ist: das Titelblatt des deutschen Magazins Focus von Ende Februar 2010, auf dem die Venus von Milo den Stinkefinger zeigt – und zwar mit dem Titel: „Betrüger in der Euro-Familie“.

„Danach soll einmal einer erklären, dass die EU auf unserer Seite ist“, schimpft der frühere Finanzredakteur Siatras, der daran denkt, sich bei den nächsten Parlamentswahlen, voraussichtlich Anfang Mai, aufstellen zu lassen.

„Vorsicht vor Klischees: Sie verpesten die Stimmung“, hatte uns in Brüssel Kostas Pappas, der Sprecher der ständigen Vertretung Griechenlands gewarnt.

Dies bestätigt eine Szene in der Nähe der Delegation der Europäischen Kommission in Athen, gleich hinter dem Sitz des Parlaments. Auf der anderen Straßenseite findet vor ein paar wenigen Touristen die Wachablösung der Evzonen statt, der Soldaten mit ihrer traditionellen Partisanenuniform mit weißen Strümpfen, beschlagenen Schuhen und roten Quastenmützen.

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Einer der Touristen, ein Griechisch-Amerikaner[PLM1] , verhöhnt die blaue Sternenflagge der EU. „Die sind im Land des Sokrates nicht am richtigen Platz“, schimpft er. „Das sind doch nur die Lakaien der Banken, ohne jede Moral.“

Schweigen als Verteidigungsstrategie

Derartige Anschuldigungen erschüttern Panos Carvounis nicht mehr. Der distinguierte, an Kritik gewöhnte Herr in den Fünfzigern ist der europäische Botschafter in Griechenland. „Ich wohne zuhause. Ich gehe ganz normal ins Kino, während sich viele verrufene griechische Politiker nicht mehr aus dem Haus trauen. Ich werde oft angesprochen, aber niemals verunglimpft“, erzählt er.

Der Rest der Eurokraten, die seit Anfang der Krise im Frühjahr 2010 in Athen weilen, hat das Schweigen zu seiner Verteidigungslinie gewählt.

Rund 15 Experten in der griechischen Hauptstadt bilden die von der Kommission zusammengestellte Task-Force, die dem Land dabei helfen soll, die EU-Fonds zu aufzunehmen. Etwa 30 weitere Experten sind bei der EU-Delegation beschäftigt, als Sekretariat der Troika – diese dreiteilige Instanz (Kommission, Internationaler Währungsfonds, Europäische Zentralbank) soll das Memorandum umsetzen, das die griechische Regierung Mitte März 2012 letztendlich akzeptiert hat.

Sie müssen auch den zweiten europäischen Hilfsplan über 130 Milliarden Euro überwachen, mit dem Athen bis Ende 2014 auskommen soll. Dieser summiert sich mit dem 110-Milliarden-Kredit, den die 27 im Mai 2010 gewährten, und dem Schuldenschnitt von 107 Milliarden Euro, den die privaten Gläubiger im Rahmen eines Anleihentauschs bis zum 18. April einräumten.

Die Task-Force-Experten, deren Anzahl bald verdoppelt wird, sind dazu da, Beistand zu leisten und Geld auszugeben. Also sind sie relativ beliebt. Die Troika-Leute überwachen, inspizieren und kontrollieren. Sie sind ideale Zielscheiben für alles, was Europa an Feinden zählt: eine Unzahl entlassener Beamter, Unternehmer, denen abdriftende Banken die Luft abgeschnürt haben, populistische Politiker, die die deutschfeindliche Stimmung clever ausnutzen, rechtsextreme Nationalisten und linksradikale Antikapitalisten...

Die Lebensweisen der beiden Kategorien sind demzufolge ganz gegensätzlich. Erstere wenden sich an die Zivilgesellschaft, treffen sich mit Sozialpartnern und verteilen sich über monatlich gemietete Privatwohnungen und Hotelzimmer in der Innenstadt. Die anderen reisen hin und her, verhandeln mit den Ministerien und wohnen – unter Polizeischutz – in den Suiten des Athener Hilton.

Die griechischen Medien fassen das ganze System mit drei Namen zusammen: Matthias Mors, EU-Vertreter bei der Troika, Horst Reichenbach, Leiter der Task-Force, und Georgette Lalis, Task-Force-Chefin in Athen.

Das Problem: Die deutsche Staatsangehörigkeit der ersten beiden trägt zur Karikatur bei – im Sinn von „Bismarck bei Sokrates“.

Zum Beweis für dieses Unbehagen löst die Tatsache, dass der Finanzexperte der Kommission ein der griechischen Sprache mächtiger Deutscher ist, Betretenheit aus. „Erzählen Sie das nicht zu sehr herum“, meinen seine Kollegen und freuen sich, dass sie 2011 schon 500 Millionen Euro Steuerrückstände eingetrieben haben.

Euro-Beamte unter Polizeischutz

Die griechische EU-Funktionärin Georgette Lalis, die aus Brüssel zur Leitung des Task-Force-Teams nach Athen entsandt wurde, ist nun das entscheidende Verbindungsstück. Die joviale, direkte Mittfünfzigerin ist im siebten Stock eines tristen Hochhauses im Wohnviertel Panormou untergebracht. Ihrem Chef, Horst Reichenbach, steht ein Leibwächter zur Seite. Ihr nicht. Er drischt hohle Phrasen. Sie nicht.

Schon von 2001 bis 2004 war sie als EU-Gesandte in Athen und leitete dort das griechische Katasteramt – ein Labyrinth der Mauscheleien und die Ursache für massive Steuerflucht, mit dessen dantischem Wiederaufbau heute die Niederländer beauftragt sind.

„Europa stößt in Griechenland auf Probleme zwischen dem griechischen Staat und seinen Bürgern“, erklärt sie. Einer ihrer Assistenten fügt noch hinzu: „Niemand hat der Bevölkerung jemals gesagt, dass sie für ihre plötzliche Bereicherung in den 1990er und 2000er Jahren drei Generationen lang zahlen muss. Und wir sind diejenigen, die ihr die Rechnung vorlegen.“

Die andere Schwierigkeit für die Eurokraten, die mit den Finanzen aufräumen sollen, liegt darin, dass sie eine schwere Schuldenmasse erben. Die Europäische Kommission wollte sich nicht mit den Mitgliedsstaaten anlegen und sie darum bitten, Griechenland infolge der Entgleisung seiner öffentlichen Ausgaben nach den Olympischen Spielen von 2004 „Disziplin beizubringen“. Das wirbelt Staub auf.

Blinde Statistik

Die Blindheit der EU-Statistikagentur Eurostat angesichts der schamlosen Mogeleien der Griechen heizt die Verschwörungstheorien an. Auch das Schweigen des griechischen Vorsitzenden des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg, Vassilios Skouris, bestätigt den Gedanken an eine mitschuldige Passivität. Eine Zeitlang wurde Skouris als zukünftiger Chef der aktuellen Koalitionsregierung gehandelt, doch schließlich kürten die EU und die großen griechische Parteien Lukas Papademos, den ehemaligen Vizepräsidenten der EZB.

Sind die Vermutungen berechtigt? Achilleas Mitsos geht der Frage aus dem Weg. In seiner schönen Wohnung in Kolonaki – dem altehrwürdigen, eleganten Bezirk von Athen, bevor die griechischen Neureichen an die Strände emigrierten – veranschaulicht der pensionierte ehemalige Generaldirektor der Kommission das Unausgesprochene, das Griechenland seit seinem EU-Beitritt 1981 und seiner noch umstritteneren Teilnahme am Euro begleitet.

„Das ist alles sehr kompliziert“, windet sich unser Gastgeber in gepflegtem Französisch heraus. „Es kam oft vor, dass ich in Konferenzen in Brüssel darauf hinwies, man müsse das Land besser überwachen, doch... in anderen Bereichen machte Griechenland unbestreitbare Fortschritte.“ Eine gemeinschaftliche Omertà.

Politische Gaunereien

Durch das Geld aus Brüssel und die günstigen Kredite an den Finanzmärkten bereicherten sich die einen an der griechischen „Blase“, während die anderen daraus Karriere schlugen. „Unsere griechischen Eurokraten waren die schlimmsten“, missbilligt Andreas, ein Schuhimporteur. „Sie wussten schon Bescheid, aber sie trauten sich nicht. Schlimmer noch: Viele von ihnen waren stolz darauf, dass das kleine Griechenland Europa zum Narren hielt. Sie benahmen sich wie Politiker. Und unsere Politiker benahmen sich wie Gauner.“

Und jetzt? „Schön wäre ein Jacques Delors, der den Griechen tapfer sagen würde: ‚Eure Grenzen sind die Grenzen Europas. Ihr seid das Europa, das viele eurer gewählten Politiker gar nicht verdienen’“, regt sich ein EU-Verantwortlicher auf. Doch das Kapitel Delors ist abgeschlossen. Und José Manuel Barroso, der heutige Kommissionspräsident, hat seit Anfang der Krise nicht einen Fuß in die griechische Hauptstadt gesetzt.

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