Wallonischer Zug, flämischer Zug

Der Zusammenstoß zweier Züge nahe Brüssel, bei dem am 15. Februar 18 Menschen ums Leben kamen, lässt die Differenzen der flämischen und französischen Gemeinschaften erneut aufflammen. Ein bedauernswerter Reflex, meint die Tageszeitung Le Soir.

Veröffentlicht am 16 Februar 2010 um 15:56
AFP

Eine nationale Tragödie. Einer jener Momente, wo die Querelen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften innehalten, wo alle denselben Schmerz teilen. Der Fall Doutroux, der Mord an Joe von Holsbeeck, die Unfälle von Lüttich oder Ghislenghien... jedes dieser Ereignisse rief eine — zu seltene — kollektive Einstimmigkeit hervor. Auch bei der Tragödie von Halle huldigten die Politiker einhellig den Opfern. Insgesamt haben die Politspitzen rasch das Ausmaß des Ereignisses erfasst. Geschockt brach Regierungschef Yves Leterme seinen Staatsbesuch im Balkan ab. König Albert II. verkürzte seinen Karnevalsurlaub in Südfrankreich. Gleich drei Minister wurden von der Regierung mobilisiert. Alle Parteien veröffentlichen Trauermitteilungen. Doch gibt es in dieser Einstimmigkeit auch schiefe Töne.

Ein "falscher Ton" im Konzert der Reaktionen? Der flämische Ministerpräsident veröffentlicht kurz nach dem Unfall eine Pressemitteilung, in der er von "einem schwarzen Tag für Flandern" spricht. Peeters, mit einer Wirtschaftsmission auf Kalifornienreise, vergisst auch nicht, den Einsatz der Rettungsmannschaften zu würdigen. Der am Unfallort präsente wallonische Ministerpräsident Rudy Demotte gibt bekannt, dass sein Amtskollege aus dem Norden ihn "gerade angerufen" und wiederum "von einer Tragödie für Flandern" gesprochen hätte. "Ich habe ihm erwidert, dass es auch eine Tragödie für die Wallonische Region sei. Ganz Belgien ist betroffen", stellte Demotte klar. "Die Pendler in den Zügen kamen aus allen Ecken des Landes. Und auch der Ferienbeginn hat die Anzahl der Reisenden nicht geringer gehalten. Die Menschen nehmen ein paar freie Tage und fahren in Urlaub..."

Der Ministerpräsident des französischen Teils erklärt, dass die Erste Hilfe auf föderaler Ebene gelenkt werde. Die Verletzten wurden je nach Sprache in verschiedene Krankenhäuser der Region eingeliefert. Er sinniert gar: "Welch ein Symbol! Ein Zug kam aus Flandern, der andere aus der Wallonischen Region. Sie haben sich ineinander verkeilt. Ein Drama, dass alle trifft..." In den sozialen Netzwerken und Internetforen aller Art, wird die Erklärung Peeters' bissig kommentiert. Allgemeiner Tenor: "Im Kopfe dieses Herrn gibt es Belgien bereits nicht mehr." Die frankophone Politprominenz will sich aber nicht auf eine sterile Polemik einlassen. Sie unterstreicht lediglich den belgischen Charakter der Tragödie. "Ein schwarzer Tag für Belgien", sagt die CDH (christdemokratische Partei der Region Wallonie). "Ein Drama für das gesamte Land" verkündet Ecolo (die frankophonen Grünen). Kris Peeters hat es seinerseits vorgezogen, die Kalifornienreise seiner Wirtschaftsmission nichtsdestotrotz fortzusetzen. Für ihn ist die Lage unter Kontrolle.

Der Unfall zweier Gemeinschaften als Symbol für unser Land? Die Herkunft der Züge und der Reisenden lässt unvermeidlich diesen Gedanken aufkommen. Ebenso wie der Unglücksort, eine Verkehrsknotenpunkt unweit der Sprachgrenze. Für den Einsatz der Rettungsmannschaften und Krankenhäuser mobilisierten sich drei Regionen (Flandern, Wallonien und Brüssel-Hauptstadt). Und die zunächst vermutete "sprachliche Ursache"— wie damals beim Drama von Pécrot als ein flämischer Signalgeber seinen frankophonen Kollegen nicht verstand — wurde nun auch ausgeschlossen. Eine belgische Katastrophe also. Doch der Kommentar von Kris Peeters beweist einmal mehr, dass die Tendenz zum gemeinschaftlichen Rückzug nie sehr weit weg ist...

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