Wohin laufen die Krisen-Wessis?

Der Mythos vom polnischen Klempner, der den deutschen Arbeitern Lohn und Brot stiehlt, ist Vergangenheit. Laut Foreign Policy România sind es nun die Arbeiter Westeuropas, die nach Osten abwandern, wo ein Mangel an qualifizierten Arbeitnehmern herrscht.

Veröffentlicht am 12 August 2010 um 14:21

Mit einem Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent im Jahr 2009 ist Polen eines der Länder in Osteuropa, das der Krise am Besten widerstanden hat. Selbst der tragische Tod eines großen Teils der politischen Elite konnte das Land nicht vom Erfolgskurs abbringen. Folge: Tausende Ostdeutsche überqueren die Oder auf der Suche nach einem Arbeitsplatz.

Offiziell arbeiten rund 2500 Deutsche im Raum Stettin, in Call-Centern, am Bau und in anderen Branchen, doch die inoffiziellen Zahlen im Umlauf liegen weit darüber. Ein Facharbeiter kann in Polen um die 1000 Euro im Monat verdienen — nicht viel, aber immerhin besser als gar nichts. Nur einen Katzensprung von Stettin entfernt, im Landkreis Uecker-Randow liegt die Arbeitslosenquote bei 20 Prozent.

Dieses neue Phänomen ist ein weiterer Beweis einer umgekehrten Migration. Kamen in den 50er und 60er Jahren Türken und Griechen nach Deutschland, so sind es heute mit der Wirtschaftskrise die Deutschen die abwandern, nach Polen oder... in die Türkei.

Die Deutschtürken kehren "nach Hause"

Viele junge Deutschtürken verlassen das Land in dem sie geboren sind, um in die Heimat ihrer Eltern zurückzukehren. Eine Studie des Dortmunder Instituts Futureorg besagt, dass 38 Prozent der jungen Türken mit Schulabschluss planen, in die Türkei abzuwandern. Die Hälfte von ihnen "fühlt sich in Deutschland nicht zuhause", wo man sie immer noch wie Ausländer behandelt. 2008 waren es rund 5000, die Deutschland verließen.

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Sie fühlen sich nicht nur ausgeschlossen, sondern erleben auch Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Laut einer Studie der Universität Konstanz hätten Menschen mit einem türkischen Namen 14 Prozent weniger Chancen, zu einem Vorstellungsgespräch geladen zu werden. In der Türkei hingegen, deren Wirtschaft seit Jahren boomt, gibt es zahlreiche Möglichkeiten und das Land ist begierig, diese qualifizierten und zudem mehrsprachigen Fachkräfte aufzunehmen.

Ein abgeschlossenes BWL— oder Ingenieursstudium, Zweisprachigkeit, sowie die typisch deutsche Arbeitskultur stehen bei türkischen Arbeitsgebern hoch im Kurs. "Deutschland verliert somit nicht nur qualifizierte Fachkräfte, deren Ausbildung der Staat finanziert hat, sondern auch Menschen, die für ein gelungenes Integrationsmodell stehen könnten", bedauert Astrid Ziebarth in einer Studie des German Marshall Funds.

Griechenland und Irland zwischen Ebbe und Flut

Es war vorauszusehen, dass die am härtesten von der Krise getroffenen Länder auch eine Abwanderung ihrer jungen Fachkräfte zu verzeichnen haben würden. Zahlreiche Griechen, die nach ihrem Auslandsstudium in die Heimat zurückkehrten, haben ihren Arbeitsplatz verloren und denken daran, das Land wieder zu verlassen.

Während des irischen Wirtschaftsbooms jubelte der Keltische Tiger. Die aufstrebende IT- und Dienstleistungsbranche hielt nicht nur die Menschen im Land, sondern lockte auch viele Menschen der irischen Diaspora wieder in die Heimat zurück. Heute, nach Jahren des Lohndumpings, stehen die Auswanderungskandidaten Schlange.

Portugiesen strömen in die Ex-Kolonie

Bei einer Arbeitslosenquote von 10 Prozent in ihrer Heimat versuchen Zehntausende von Portugiesen heute ihr Glück in... der südwestafrikanischen Ex-Kolonie Angola. Dank Ölreichtums kann Angolas Wirtschaft in den letzten fünf Jahren ein jährliches Wachstum von 16 Prozent vorweisen. Der Wirtschaftsboom Angolas bietet zahlreiche professionelle Möglichkeiten, da es dem Land an Fachkräften im Ingenieurswesen, in der IT-Branche, im Einzelhandel sowie im Bankensektor mangelt.

In den letzten drei Jahren sind mehr als 25.000 Portugiesen dorthin abgewandert. Darunter Kleinunternehmer, Angestellte und Facharbeiter (Maurer, Elektriker, Bauleiter, usw.).Trotz aller Traumata aufgrund der kolonialen Vergangenheit und des Kampfes für die Unabhängigkeit erleichtern die sprachlichen, historischen und kulturellen Bindungen die Integration der Portugiesen. (js)

Aus Bukarest

Ein Hoch auf den Brain drain!

"Wenn der Staatschef höchstpersönlich die Emigration lobt, dann heißt das, dass das Land bankrott ist", schreibt Journalul National über die kürzlich geäußerten Worte des Präsidenten Traian Băsescu. Der hatte den "Mut" der Rumänen gelobt, die das Land verlassen haben und so freundlich sind, durch ihre Abgaben zu seinem Reichtum beizutragen ohne sein Sozialsystem zu belasten. Ganz egal, ob Rumänien bald "ohne Ärzte dastehen wird, dass die Patienten ohne Gewissensbisse vom Staat im Stich gelassen werden, und dass qualifizierte Arbeitskräfte abwandern", grollt die Zeitung. Die Elitenabwanderung betrifft nicht nur Rumänien: Während die Arbeitslosenrate überall in Europa erneut in die Höhe klettert, erklärt Lidové noviny, dass die Headhunter in einigen Ländern wie zum Beispiel Deutschland und Großbritannien immer mehr ins Ausland spähen, um die geeignetsten Profile für wichtige strategische Posten wie Ingenieure, Informatiker, Köche oder Ärzte zu finden.

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