Wachtmeister im französischen Stil. Ein CRS-Mitglied (Spezialeinsatztruppe).

Sarkozys harter aber zahnloser Krieg

Die Abschiebung der Roma ist kein einfacher Fall von Rassismus, sondern vielmehr eine Politik, die die tiefe Krise der französischen Republik ausdrückt, meint eine englische Bürgerrechtskämpferin.

Veröffentlicht am 15 September 2010 um 14:56
Wachtmeister im französischen Stil. Ein CRS-Mitglied (Spezialeinsatztruppe).

Die Abschiebung der Roma durch Präsident Nicolas Sarkozy löste sowohl innerhalb als auch außerhalb Frankreichs Aufruhr aus. Natürlich sind die Bilder von französischen Ordnungshütern beim Räumen von Roma-Lagern schockierend und schändlich: Es wurden rund 40 Lager geräumt und 700 Menschen mit Ausweisung bedroht. Und doch ist diese Kampagne nicht das Produkt eines rassistischen oder agressiven Komplexes des französischen Staatspräsidenten, sondern vielmehr das Resultat der sonderbaren Mühen des französischen Staates.

Frankreich war der meistzentralisierte Staat in ganz Europa und erhob die Bürokratie zur wahren Kunst, indem es ein kompliziertes Netz von Elite-Institutionen im öffentlichen Dienst aufbaute, die vom amtierenden Präsidenten bis hin zum Bürgermeister jeder Stadt und jedes Dorfs reichten. Doch der französische Staat wurde ernsthaft geschwächt. Es gibt viele Regionen, die als „sensible Gebiete“ bekannt und weitgehend von zugewanderten Bevölkerungsgruppen bewohnt sind. Dort ist der Staat kaum oder gar nicht anwesend und die Polizei betritt sie nur unter schwerer Bewaffnung.

In diesen Gebieten herrscht immer eine unterschwellige Spannung, sie sind immer explosionsbereit. Ein solcher Vorfall lag auch der Abschiebung der Roma zugrunde. Am 16. Juli fuhr ein junger Roma in Saint-Aignan (Loire) durch eine Verkehrskontrolle und nahm dabei einen Polizeibeamten auf die Kühlerhaube. Als er an der nächsten Verkehrskontrolle wieder nicht stehen blieb, wurde er von der Polizei erschossen. Am folgenden Tag zerstörten 50 randalierende Roma mit Äxten ein Polizeirevier und weitere Regierungsgebäude. In Antwort darauf kritisierte Sarkozy ein "gewisses Verhalten beim fahrenden Volk“ und verkündete, die Bewohner illegaler Lager würden ausgewiesen werden.

Doppelt so viele Roma in Spanien wie in Frankreich

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Ein weiterer Zwischenfall führte zur zweiten Sommerinitiative Sarkozys, die auf große Medienresonanz stieß: Franzosen "ausländischer Herkunft“ sollte die französische Staatsbürgerschaft entzogen werden, wenn sie schwere Straftaten begingen. Dies folgte darauf, dass die Polizei in Grenoble einen bewaffneten Räuber erschoss, was mehrere Nächte andauernde Unruhen in den Arbeiter- und Immigrantenvierteln der Stadt auslöste. "Wie in Beirut! Ich sag’s Ihnen, wie in Beirut!“ rief etwa eine dort ansässige Frau, während Polizeiautos mit quietschenden Reifen vorbeifuhren und Hubschrauber in der Luft standen. Ähnliche Eskalationen sind eine allgegenwärtige Bedrohung in vielen Regionen Frankreichs. Ein so banaler Vorfall wie die Verhaftung eines Motorradfahrers kann zu einer sich verschärfenden Kette von Geschehnissen führen, die in einer offenen Schlacht zwischen der Bevölkerung und der Polizei endet.

Diese Ereignisse werden nicht etwa durch eine den eingewanderten Bevölkerungsgruppen innewohnende Unordnung hervorgerufen. Tatsächlich gibt es in Spanien fast doppelt so viele Roma wie in Frankreich (725.000 im Vergleich zu 400.000), und auch in Großbritannien leben immerhin 300.000 Roma . Doch nur in Frankreich besteht diese extreme Spannung zwischen den Roma und Staat, was zweifellos ein Produkt des französischen Staates und seiner Beziehungen – oder vielmehr seinem Mangel an denselben – zu den eingewanderten Bevölkerungsgruppen ist.

Anders als Großbritannien hat Frankreich es versäumt, neue, vermittelnde staatliche Institutionen zu bilden, welche die Bedenken der Regierung über die gesellschaftliche Ordnung umsetzen. In Großbritannien entwickelte der Staat ein wahres Arsenal an Institutionen gegen unsoziales Verhalten, wie etwa neue öffentliche Maßnahmen auf lokaler Ebene – Verbote unsozialen Verhaltens ("anti-social behaviour orders“, ASBO), besonders unruhegefährdete Gebiete ("disorder zones“) oder sofort zahlbare Strafgelder – sowie neue beamtliche Funktionen wie Ordnungsdienste („community support officers”) oder Umgebungsaufseher („neighbourhood wardens“). Diese Maßnahmen mögen zwar nur einen geringen praktischen Effekt haben, doch es ist ihnen gelungen, neuartige Kontakte zwischen disparaten Bevölkerungsgruppen und dem Staat herzustellen und eine disziplinierende Funktion zu erfüllen.

Militarisierte Beziehungen zu den empfindlichen Banlieues

Als Sarkozy versuchte, „lokale Sicherheitsverträge“ einzuführen, beschwerte er sich über die mangelnde Resonanz: Im Jahr 2007 wurden 22 Verträge abgeschlossen, 2008 nur noch acht und 2009 nur ein einziger. In Großbritannien hätten die lokalen Behörden eine derartige Maßnahme freudig an sich gerissen. Frankreich besitzt die ganze eindrucksvolle Architektur des Zentralstaats – lauter erstklassige öffentliche Institutionen und Netzwerke – und doch bleiben sie alle sich selbst überlassen und sind von der Gesellschaft abgeschnitten.

Da, wo weitere Versuche zur Überbrückung der Kluften versagten, militarisierte Frankreich zunehmends seine Beziehung mit den empfindlichen Vororten. Wo Großbritanniens einen Ordnungsdienst hat – der in schlecht sitzenden Jacken herumläuft und den Leuten die Leviten liest, wenn sie ihren Kaugummi auf den Boden spucken – hat Frankreich eine "antikriminelle Brigade“, die im Grunde aus schwer bewaffneten, im Straßenkampf geschulten Streitkräften besteht.

Doch die Einwohner der sensiblen Gebiete betrachten solche bewaffneten Brigaden fast wie eine einfallende ausländische Armee. Nicht nur junge Männer reagieren so. "Geht zurück nach Hause!“ rief eine alte Frau, als die Polizeikolonnen durch Grenoble liefen. Ein andermal wurde eine Mutter verhaftet, weil sie einen Polizeibeamten ins Bein gebissen hatte. Diese Konfrontationen sind ein buchstäblicher „Krieg“ zwischen der schweren Staatsmaschinerie und einer von ihr völlig abgetrennten Bevölkerung.

Eine präsidentielle Geste ohne wirkliche Auswirkungen auf das Leben der Menschen

Wie der Soziologe Denis Muzet betont, fungieren die Roma vorrangig als Symbol für die Unordnung, welcher der Staat den Krieg erklärt. Und das Gesetz über den Nationalitätsentzug der Franzosen "ausländischer Herkunft“ zeigt, dass es vor allem um Feindseligkeiten gegenüber dem Staat geht. Zu den Straftaten infolge derer die Staatsbürgerschaft entzogen werden soll, gehören vorwiegend Angriffe auf Staatsvertreter – nicht nur auf Polizisten, sondern auch auf andere Beamte.

Den ganzen Sommer lang begaben sich Sarkozy und seine Minister zu Medienterminen, wodurch der Staat die Zurückgewinnung des verlorenen Terrains verdeutlichen wollte. Innenminister Brice Hortefeux fuhr selbst mit der Nachtpolizei durch die Straßen von Grenoble auf Streife, als wolle er die Nation höchstpersönlich absichern. Bilder vom Staat, der gesetzlose Gebiete wieder in seine Hand bringt, sollen die breite Öffentlichkeit ansprechen. Dies erklärte Hortefeux auch in einem Interview: "In Wirklichkeit führen die vom Präsidenten eingeleiteten Maßnahmen die Franzosen wieder zusammen.“

Die Angriffe auf die Symbole der Unruhen – ob nun die Roma oder die Straftäter – sollen eine Mehrheit ansprechen, von welcher sich der Staat ebenfalls entfremdet hat. Das Problem liegt jedoch darin, wie Muzet unterstreicht, dass sie nur "eine Geste des Präsidenten ohne wirkliche Auswirkungen auf das tägliche Leben der Menschen“ sind. In den Meinungsumfragen tat sich während der sommerlichen Offensive kaum etwas. Weil sie für die Franzosen nur ein Szenario im Fernsehen war, berührte sie sie auch nicht. Das eigentliche Resultat dieser symbolischen Angriffe besteht im Endeffekt nur darin, die Beziehungen zwischen dem Staat und den Minderheiten noch zu verschlimmern und die Distanz zwischen Polizei und Bevölkerung zu vertiefen.

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema