Nachrichten Zehn Stimmen zu Europa | 4

Europa ist ein Auto

Kein Künstler hat Lust sich Europas anzunehmen, schreibt der deutsche Autor Thomas Brussig. Denn die Union gibt uns keinen Grund, sie als Herzenssache anzusehen, sondern sie bleibt ein Club der Interessierten an anonymer Nützlichkeit.

Veröffentlicht am 27 Dezember 2010 um 09:23

Wenn ein Theaterautor mit einem Politiker zusammentrifft, ist es fast unvermeidlich, daß der Politiker erwähnt, was für ein Stück geschrieben werden müßte. Heutzutage sagt ein Politiker immer: „Ich wünsche mir ein Stück über die Finanzkrise.“ Vor einigen Jahren jedoch sagte mir mal ein Politiker, er wünsche sich ein Stück über die europäische Integration. Und dann strahlte er mich an, als hätte er mir die Idee geliefert für einen europaweiten Kassenknüller.

Selbstverständlich habe ich dieses Stück nicht geschrieben. Nicht nur deshalb, weil ich von der europäischen Integration noch weniger verstehe als jener Politiker vom Theater. Es gibt ja auch sonst kein Stück über die europäische Integration, zumindest kein bemerkenswertes. Das ist insofern auch nicht verwunderlich, weil sich Kunst ja immer an den Zuständen reibt. Wo alles bestens ist, hat die Kunst nicht viel verloren. (Insofern ist der Ruf nach dem Finanzkrisen-Stück auch nachvollziehbar.)

Die europäische Integration hat beachtliches vollbracht; die Superlative der Sonntagsredner sind berechtigt. Es gibt heute in Europa kaum noch nationalstaatliche Konflikte, bei denen eine Kriegsgefahr überhaupt nur denkbar ist. Es gibt keine Lager, keine Blöcke, keine europäische Teilung. Selbst die Grenzkontrollen sind vielerorts entfallen – vor wenigen Jahrzehnten noch schien das utopisch. Es gibt eine Einheitswährung, die auch dann, wenn ihre Einführung in manchen Staaten wieder rückgängig gemacht würde, ihre Leuchtkraft behielte und alle verbleibenden Staaten anregen würde, ihr beizutreten. Schul- und Universitätsabschlüsse erlangen europaweite Gültigkeit, die Arbeitsmärkte öffnen sich, so daß jeder Europäer überall in Europa sein Glück versuchen kann. Und da es sowieso keine nationalstaatlichen Konflikte innerhalb Europas gibt, könnte man die nationalen Armeen auch gleich durch eine europäische Armee ersetzen. Die arbeitslosen Verteidigungsminister dürften dann gern auch Theaterintendanten werden.

Europa, ein Haus mit verschlossenen Türen

Aber ich bin mit Europa überhaupt nicht im Reinen. Den Begriff des „europäischen Hauses“ hörte ich das erste Mal von Michail Gorbatschow, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Gorbatschow opferte dieser Idee das Sowjet-Imperium. Er entließ den Ostblock aus dem sowjetischen Herrschaftsbereich, stimmte der deutschen Einheit ebenso zu wie der Osterweiterung der NATO. Die Sowjetunion zerfiel, und drei ehemalige Sowjetrepubliken traten der EU bei. Doch dem Rest der ehemaligen Sowjetunion wurde die Tür des europäischen Hauses vor der Nase zugeschlagen.

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Noch krassere Erfahrungen machte die Ukraine, die in der „Orangenen Revolution“ 2004 eine autoritäre Regierung abschüttelte. Kiews Revolutionäre waren beseelt von europäischen Idealen und getragen von einer europäischen Perspektive. Mit friedlichen Mitteln für Demokratie, Freiheit und Recht einzutreten – wenn das nicht europäisch ist, was dann? Doch auch der Ukraine wurde die Mitgliedschaft in der EU verweigert. Diese Demütigung habe ich erlebt, als wäre ich selbst Ukrainer.

Es wird oft gesagt, daß „Europa eine Herzenssache ist“. Nun, für die orangenen Revolutionäre und sicherlich auch für Michail Gorbatschow war es eine Herzenssache – und sie haben es trotzdem nicht in das institutionalisierte Europa geschafft. Während die Dänen, die Iren und wer da noch alles NEIN! zur europäischen Verfassung sagte, in der EU bleiben mußten – oder einfach so lange gefragt wurden, bis das erwünschte Ergebnis eintrat.

Brüssel, das sprachlose Raumschiff

Insofern kann ich Europa „als Herzenssache“ nicht ernst nehmen. Eher als ein bürokratisches Gebilde, welches im täglichen Leben durchaus von Nutzen ist. Man denke nur an die Privilegien, die einem der Status als „europäischer Verbraucher“ sichert. Einer „europäischen Identität“ steht vor allem die Sprache entgegen. Jeder weiß doch, daß die Verständigung in der Muttersprache eine ganz andere Basis herstellt. Und leider wird sich auf unabsehbare Zeit kein Europäer mit der Mehrheit der Europäer in einer gemeinsamen Muttersprache verständigen können. Jeder europäische Politiker, der in seiner Muttersprache redet, wird nur von einer Minderheit der europäischen Bürger verstanden. Da jedoch die Sprache, die Rhetorik der Politiker ihr hervorstechendstes Erkennungsmerkmal ist, werden die europäischen Politiker der Mehrheit der europäischen Bürger immer irgendwie fremd und Brüssel immer ein gesichts- und sprachloses Raumschiff bleiben. Und eine Lösung dafür gibt es nicht.

Es gibt Menschen, die lieben ihr Auto. Andere beteuern, es sei „nur ein Gebrauchsgegenstand“. Und so ist es auch mit Europa: Europa kann Herzenssache sein. Aber es funktioniert zum Glück auch so.

In Zusammenarbeit mit dem Spiegel-Online

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