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Covid-Impfung für Menschen ohne Papieren, eine verpasste Chance für Europas Gesundheitssysteme

Ein Jahr nach Beginn der Impfkampagnen in Europa zeigt eine Umfrage von Lighthouse Reports und Picum, dass die Regierungen in Bezug auf die Impfung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus oft zu wenig oder manchmal gar nichts getan haben. Eine Gefahr für die Gesundheit aller Bürger.

Veröffentlicht am 26 Januar 2022 um 17:00

„Niemand ist sicher, solange wir nicht alle sicher sind“. Diese Botschaft, die von den europäischen Gesundheitsbehörden und Regierungen fast mantrahaft wiederholt wird, um auch die größten Skeptiker von den Vorteilen der Impfung gegen Covid-19 zu überzeugen, scheint jedoch nicht für alle zu gelten. Denn seit Beginn der Pandemie sind Impfstoffe für die Schwächsten der Gesellschaft, wie Inhaftierte, Obdachlose und illegale Migranten nur schwer oder gar nicht zugänglich.


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Während alle diese Gruppen darunter leiden, nicht gesehen und beachtet zu werden, fallen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus gänzlich aus der Statistik: Seit 2009, als ihre Zahl auf 1,9 bis 3,8 Millionen geschätzt wurde, fanden auf europäischer Ebene keine Zählungen mehr statt. Vor diesem Hintergrund ist es praktisch unmöglich, zu erfassen, wie viele von ihnen von den Impfprogrammen in den EU-Ländern und im Vereinigten Königreich profitiert haben. Aus diesem Grund hat Lighthouse Reports in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Picum (Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants), eine Umfrage durchgeführt, in der verglichen wurde, was verglichen werden konnte: die Politik der verschiedenen EU-Staaten und des Vereinigten Königreichs in Bezug auf die Impfung illegaler Migranten.

Das Ergebnis ist eine 18 Länder umfassende Vergleichstabelle (auf Englisch), die fünf Kriterien berücksichtigt:

1.       Transparenz der Impfstrategien;

2.       Vorgesehener (oder nicht vorgesehener) Zugang zur Impfung für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus;

3.       eventuell erforderliche Identifikations- und 

Aufenthaltsbedingungen;

4.       Bedingungen für den Zugang zu Impfungen für andere marginalisierte Teile der Bevölkerung wie Häftlinge, Menschen in prekären Wohnsituationen, Menschen ohne Internetzugang und ausreichenden lokalen Sprachkenntnissen;

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5.       Garantien für den Schutz der Privatsphäre, ein wesentlicher Indikator, wenn man befürchten muss, aufgrund seines Status als "illegaler Migrant" verhaftet zu werden.

An der Spitze dieser Rangliste stehen das Vereinigte Königreich und Portugal, die eine „offene und gut zugängliche“ Impfpolitik für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus verfolgen. Ganz im Gegensatz zu Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakei, deren Politik diesbezüglich als "explizit ausgrenzend" definiert wurde.

Die Mehrheit der untersuchten Länder erzielte ein unklares Ergebnis. „Die Impfpolitik für illegale Migranten- oder vergleichbar prekäre Personen - ist dort extrem vage“, erklärt Eva Constantaras von Lighthouse Reports. „Wir hätten nicht gedacht, dass dies so häufig der Fall sein würde. Die Kategorie 'unklar' umfasst Länder, die in der Praxis manchmal besser abschneiden als auf dem Papier, aber auch Länder, die, ohne es offen zu sagen, Menschen ohne Papiere de facto vom Recht auf Impfung ausschließen. In den meisten Fällen begründen sie dies mit immigrationsfeindlichen Argumenten, um die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, aber die Regierungen dieser Länder sind sich auch darüber im Klaren, dass es eine schlechte Entscheidung ist, einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung nicht zu impfen, weil das die öffentliche Gesundheit gefährdet. Eine schwammige Impfpolitik erlaubt es den Regierungen unserer Meinung nach, keine klare Position zu beziehen.“

Diese Ergebnisse wurden durch eine Reihe von Umfragen bestätigt, die europäische Medien im Rahmen dieses Projekts durchgeführt haben (siehe Veröffentlichung auf VoxEurop). So überprüften Journalisten vor Ort die tatsächliche Umsetzung der Impfkampagnen und beschrieben die Hindernisse, auf die Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus beim Impfen stoßen. In Portugal zum Beispiel begleitete die Tageszeitung Público Mohammed und Diego, die Schwierigkeiten hatten, sich Impfen zu lassen, obwohl offiziell behauptet wurde, dies sei kein Problem. Sie mussten auf informelle Lösungen ausweichen. Eine Erfahrung, die der von Fred in Belgien ähnelt, obwohl er dort seit über 10 Jahren lebt, wie die Wochenzeitung Knack berichtet.


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In mehreren Ländern haben schlechte Kommunikation und die Angst, von den Behörden entdeckt zu werden, bei Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus dazu geführt, dass sie sich nicht haben impfen lassen. „Vertrauen ist entscheidend", sagt die luxemburgische Europaabgeordnete Tilly Metz (Grüne/Freie Europäische Allianz), die diese Angst in ihrem Land Luxemburg beobachten konnte (Luxemburg ist nicht in der Lighthouse Reports/Picum-Studie aufgeführt).  

Dank des „proaktiven Ansatzes“ der Association de soutien aux travailleurs immigrés (ASTI) und des Comité de liaison des associations d'étrangers (CLAE), beides Vereine, die vor etwa 40 Jahren gegründet wurden, konnte in Zusammenarbeit mit dem luxemburgischen Gesundheitsministerium eine gezielt an illegale Immigranten gerichtete Impfkampagne durchgeführt werden. „Eine wohlüberlegte Initiative", sagt Metz, die auf einem Trial-and-Error-Verfahren beruht, demnach Vertrauen erst einmal aufgebaut werden muss". Daher fordern die Organisatoren dieser Kampagne nicht nur, dass die Verwendung persönlicher Daten garantiert nur zu Gesundheitszwecken genutzt wird, sondern auch, dass die in den Impfzentren anwesenden Sicherheitsbeamten Zivilkleidung tragen. Luxemburgs Regierung zog es vor, den Start dieser gezielten Impfkampagne so diskret wie möglich zu halten, um eine Politisierung des Themas zu vermeiden“.

Im Vergleich zur ersten Phase der Pandemie „ist diese Politisierung sicherlich nicht hilfreich", meint Alyna Smith, die bei Picum arbeitet. Sie schließt jedoch nicht aus, dass sich die Systeme in den verschiedenen Ländern noch angleichen lassen, obwohl jedes Land seine eigene Dynamik hat. "In manchen Ländern muss der Staat erst einmal die Existenz von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus anerkennen. Dies ist zum Beispiel in der Slowakei der Fall, wo es sich größtenteils um Arbeitnehmer handelt, die von ihren Arbeitgebern illegal untergebracht werden, oft weit entfernt von Ballungszentren".

In anderen Fällen wie in Griechenland verlief die Entwicklung – zumindest dem Anschein nach – schneller und positiver als erwartet. Am 2. Oktober 2021 veröffentlichte die Regierung ein Gesetz (4839/2021) mit einer Bestimmung, die es Menschen ohne Papiere und Staatenlosen ermöglicht, eine vorläufige Sozialversicherungsnummer zu erhalten, mit der sie sich impfen lassen können. Zunächst sehr ermutigend, musste diese Bestimmung anschließend durch gemeinsame Beschlüsse der Minister für Gesundheit, Digitales, Arbeit und Soziales sowie für Migration und Asyl konkretisiert werden. Laut der Tageszeitung Efimerida ton Syntakton waren Mitte November jedoch zwei der drei Ministerialbeschlüsse noch nicht veröffentlicht worden, was dramatische Folgen hatte für illegale Migranten, vor allem für diejenigen, die in den Geflügelfarmen im Norden des Landes gearbeitet haben, wie die Zeitung berichtet. 

„Nach unseren vergleichenden Untersuchungen und den journalistischen Recherchen auf nationaler Ebene sind die europäischen Regierungen der Situation nicht gewachsen, behaupten aber das Gegenteil, auch wenn sie ihre Verantwortung längst an andere abgegeben haben", kritisiert Eva Constantaras, die befürchtet, dass die Frage des Zugangs zur Gesundheitsversorgung für Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus schnell wieder in Vergessenheit geraten wird. 

Zwar war dieser Zugang in den meisten europäischen Ländern schon immer kompliziert, erklärt Alyna Smith, „doch die Pandemie hat sehr deutlich gezeigt, dass das Vorgehen nicht nur ungerecht, sondern auch dumm und zum Scheitern verurteilt ist. Wenn wir in einer gesunden Gesellschaft leben wollen, müssen wir diese Art der Ausgrenzung aktiv bekämpfen". Trotz der positiven Schritte, die einige Länder bis 2021 unternommen haben, "wird dies nicht ausreichen, um die strukturellen Hindernisse beim Zugang zur Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere zu beseitigen. Wir müssen Gesundheitssysteme schaffen, welche die gesundheitlichen Bedürfnisse der Menschen ganz klar über ihren Aufenthaltsstatus stellen".

„Es kann keine öffentliche Gesundheit ohne die Gesundheit von Migranten geben", erinnerte die Zeitschrift The Lancet Public Health in einem Editorial, das vor Beginn der Pandemie im Juni 2018 erschien. Eine Tatsache, die die meisten europäischen Regierungen trotz dieser beispiellosen Gesundheitskrise noch immer nicht akzeptieren wollen.  

In Zusammenarbeit mit European Cultural Foundation

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