Das Ende des dummen Europas

Brüssels Entscheidung, Madrid und Paris mehr Zeit einzuräumen, um die Staatsfinanzen zu sanieren, ist ein Zeichen dafür, dass die Union letztendlich doch noch über den nötigen gesunden Menschenverstand verfügt, meint Le Monde

Veröffentlicht am 6 Mai 2013 um 15:35

Sind die Europäer im Begriff, auf Intelligenz und gegenseitiges Vertrauen zu setzen? Genau diese Hoffnung weckt jetzt die Europäische Kommission. Zur allgemeinen Überraschung entschied sie, Frankreich zwei Jahre mehr Zeit zu gewähren, damit es sein Haushaltsdefizit unter die Drei-Prozent-Marke bringt. Folglich muss dieses Defizitziel nicht 2013 oder 2014, sondern 2015 erreicht werden.

Vor der Bekanntgabe dieser Entscheidung zeigte sich Paris viel bescheidener: Nachdem feststand, dass die von Nicolas Sarkozy gemachte Zusage nicht erfüllt werden könne, und klar wurde, dass auch François Hollande [2013 am Defizitziel scheitern werde], erhoffte sich [Frankreich] eine zusätzliche Frist von einem Jahr.

Dann aber traf EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn eine andere Entscheidung. Seiner Meinung nach würde sich [Frankreich] überanstrengen, um das Defizitziel von maximal drei Prozent ab dem kommenden Jahr einzuhalten. Das Ganze sei einfach unglaubwürdig. Um den Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung nicht den Wind aus den Segeln zu nehmen, verlängerte er die Frist bis 2015. Als Gegenleistung dafür forderte er die französische Regierung dazu auf, sich verstärkt um Reformen zu bemühen und die Staatsausgaben weiter zu kürzen. Endlich bereiten die Kommission und die europäischen Staaten dem Spiel ein Ende, das alle wirtschaftspolitischen Steuerungsversuche der Währungsunion nutzlos machte, und den Euro an den Rand der Katastrophe führte.

Erst Dummheit, dann Lüge und jetzt Vernunft

Zunächst einmal gab es da die „dumme“ Phase. Dieses Adjektiv verwendete der frühere EU-Kommissionspräsident Romano Prodi für den Stabilitätspakt. Um seine Macht zu stärken, bestand Brüssel auf Rechnungsführungsvorschriften. Dabei nutzten Staaten wie Frankreich und Deutschland sie ab 2003, um sich von ihnen loszusagen. Der Fall Gerhard Schröder zeigt, wie dies auf intelligente Weise geschehen konnte, zumal Deutschland die Verschnaufpause nutzte, um Reformen einzuleiten. Der Fall Jacques Chirac aber zeugt von viel mehr Leichtfertigkeit, da [Frankreich] sich vor allem eifrig darum bemühte, nichts zu tun.

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Während der Krisenjahre wurden die Regeln ausgesetzt. Gleich darauf aber folgte die Ära der Lüge, die alle irgendwie arrangierte: Jeder versprach dem anderen etwas, von dem er genau wusste, dass er es nicht halten könne. So behaupteten die Kommission und François Hollande monatelang, dass Frankreich [sein Defizit] 2013 unter die Drei-Prozent-Marke bringen würde. Auf diese Weise wahrte die Kommission ihr Gesicht, und Paris konnte seine Rolle als Musterschüler weiterspielen.

Im Rahmen der Auseinandersetzungen um den politischen Kurs in Europa, ist dieses kleine Spielchen allerdings unhaltbar geworden. Die Anhänger einer konjunkturpolitischen Steuerung (Frankreich, IWF) stehen denjenigen gegenüber, die Sparsamkeit großschreiben (Deutschland, Kommission). Um zu verhindern, dass sich die derzeitige Rezession noch mehr verschärft, darf es gleichzeitig nicht mehrere Sparprogramme auf einmal geben, fordern die Ersten. Das aber überzeugt die anderen nicht, die glauben, aus ihren Erfahrungen gelernt zu haben. In ihren Augen handelt es sich bei [dieser Forderung] schlicht und einfach um einen geschickten Vorwand, um die erforderlichen Bemühungen auf später zu verschieben. Das Ergebnis heißt Rezession und Reformmangel und ist gefährlich.

Mit ihrer Entscheidung, auf den Drei-Prozent-Fetischismus zu verzichten, hat die Kommission sich entschlossen, dem Spiel, in dem es nur Verlierer geben kann, ein Ende zu bereiten. Damit hat sie einen wirtschaftlich vernünftigen und politisch geschickten Entschluss gefasst.

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