Der Wohlfahrtsstaat

Veröffentlicht am 24 September 2010
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Die politische Wettervorhersage hat sich nicht geirrt: Der versprochene “heiße Herbst” in Europa ist allem Anschein nach da. Die drastischen Kürzungen in den Etats der Mitgliedsländer, um die Wirtschaftskrise zu bewältigen und die Haushalte zu sanieren, führte in der EU zu Lohnstopps — oder gar Lohnsenkungen —, zu weniger Sozialleistungen und zu Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen. Die Bürger wollen aber nicht auf ihre hart erkämpften sozialen Errungenschaften verzichten und demonstrieren allerorts, auch in den postkommunistischen Ländern, in denen die Reformen der Martwirtschaft seit Mauerfall eher wohlwollend aufgenommen wurden.

Das haben wir Anfang des Monats in Frankreich erlebt — was niemanden verwundert — , in Rumänien, wo weiterhin mobil gemacht wird, in der Tschechischen Republik und wieder in Frankreich. Und am 29. September wird in Spanien zum Generalstreikaufgerufen, um gegen die Einsparungen im Wohlfahrtsstaat zu protestieren.

Derselbe ist es, der zum zentralen Anliegen der Menschen in Europa geworden ist. Er ist es, der durch die Krise in Frage gestellt wurde — und nicht etwa die Finanzbranche, die doch am Ursprung ebendieser Krise ist. Dabei ist er eine der größten Errungenschaften der Nachkriegszeit: Kostenlose Bildung und Gesundheit für alle und auch andere öffentliche soziale Dienstleistungen sind das Herzstück des europäischen Sozialmodells.

Ein sozialdemokratisches Modell, dem die Europäer sehr verbunden sind, selbst wenn — so paradox es auch scheint — sie sich gerade von jenen Parteien abwenden, die doch eigentlich diese Werte verkörpern oder verteidigen sollten, wie wir in Schweden sehen konnten. Einer der Gründe von dieser Abkehr liegt im Zerfall des Zusammengehörigkeitsgefühls. Überall ist der Egoismus im Aufwind (auf nationaler, regionaler oder individueller Ebene) — von manchen gar verherrlicht. Die europäische Gesellschaft ist heute gespaltener als in der Vergangenheit. Die Ungleichheiten sind größer geworden. Wie der britische Historiker Tony Judt kurz vor seinem Tod im August schrieb: die Ungleichheiten bringen Krankheit und soziale Konflikte. Genau jene Konflikte, die uns heute den „heißen Herbst“ bescheren.

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Gian Paolo Accardo

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