EU

Die machtlose Volksvertretung

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Alle wollen eine demokratischere EU. Aber ihn ihrem einzigen demokratischen Organ, dem Parlament, erfüllen die Abgeordneten immer noch nicht ihre Funktion als Volksvertreter. Schuld ist die Struktur, die ihnen jegliche Souveränität verweigert, und auch ihre eigene Arbeitsweise.

Veröffentlicht am 19 März 2012

Der Wanderzirkus trifft sich am Gare du Midi in Brüssel. Von dort aus bringt ein extralanger Sonderzug die Mitglieder des Europäischen Parlaments, ihre Assistenten und andere (darunter auch Journalisten) an ihren zweiten Standort in Straßburg. Die Stadt hat innerhalb eines Jahrhunderts fünfmal zwischen der deutschen und der französischen Staatsangehörigkeit gewechselt und soll ein Symbol für die Nachkriegsversöhnung sein. Dieser Tage steht die allmonatliche Karawane jedoch offenkundig für die Verschwendungsgabe der Europäischen Union.

Die EU-Abgeordneten werden zwischen dem schnittigen Parlamentsgebäude und den Hotels und Restaurants der Stadt beflissen hin und her chauffiert, wobei die Preise aus diesem Anlass schamlos in die Höhe schnellen. Die meisten Abgeordneten verabscheuen diese Bruch. Und doch können sie wenig gegen das System mit den zwei Arbeitsorten (und zusätzlichen Funktionen in Luxemburg) tun: Es ist in Verträgen verankert, die nur einstimmig abgeändert werden können. Auf den Versuch der Abgeordneten, eine der zwölf Plenarsitzungen in Straßburg zu streichen, reagierte Frankreich mit einer Klage. Ganz offensichtlich hat das Europäische Parlament keine Souveränität.

Also löst der Straßburger Budenzauber gleich doppelte Verachtung aus. Zunächst einmal sind die zusätzlichen Kosten für die Sitzungen in Straßburg, die auf 180 Millionen Euro jährlich geschätzt werden, zu Zeiten der bitteren Sparmaßnahmen ein regelrechter Skandal. Zweitens ist das Parlament irrelevant, wenn es darum geht, Abhilfe zu schaffen. Damit erklärt sich auch teilweise ein anderes Paradox: Je mehr Macht das Parlament erlangt, desto weniger Bürger nehmen den Urnengang überhaupt auf sich.

Feilschen unter den drei Organen

Für die meisten Themen, die den Wählern wichtig sind, wie Gesundheit, Bildung und Polizeiarbeit, sind die nationalen Parlamente zuständig. Die EU befasst sich vorwiegend mit obskuren behördlichen Fragen. Doch das ist nur zum Teil der Grund dafür, dass die Wähler nicht erkennen, inwieweit ihre Auswahl der Abgeordneten ins Gewicht fällt.

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Die Gesetzgebung wird von der Europäischen Kommission, dem Verwaltungsorgan der EU (geführt von einem ernannten Kollegium), vorgeschlagen. Dann müssen die Gesetze vom Ministerrat (in welchem die Regierungen hinter verschlossenen Türen Abmachungen treffen) und vom Europäischen Parlament (in dem sich die Bündnisse je nach Thema verlagern) verabschiedet werden. Meinungsverschiedenheiten werden durch Feilschen unter den drei Organen beigelegt.

Das System sieht viele gegenseitige Kontrollen vor. Doch die Wähler können Faulenzer nicht hinauswerfen.

Dieses chronische Problem der demokratischen Legitimität ist durch die Eurokrise richtig akut geworden. Brüssel erhielt neue Befugnisse und kann nun nationale Staatshaushalte kontrollieren sowie andere eventuelle „Ungleichgewichte“ überwachen. Ländern, die man vor dem Zusammenbruch rettete – Irland, Portugal und vor allem Griechenland –, wurden Sparmaßnahmen und Reformen auferlegt. Doch die „wirtschaftliche Governance“ ist auch an anderer Stelle spürbar.

Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi wurde durch den Technokraten Mario Monti ersetzt. Innerhalb von wenigen Tagen nach seinem Amtsantritt wurde der neue sozialistische Ministerpräsident in Belgien, Elio Di Rupo, unter Androhung von Strafmaßnahmen angewiesen, Haushaltskürzungen vorzunehmen. Ungarn wurde kürzlich angekündigt, es werde nächstes Jahr 495 Millionen Euro Hilfsgelder verlieren, wenn es sein Defizit nicht unter Kontrolle bringt.

Mangelhaftes Organ in einem mangelhaften System

„Die Regierungen fangen erst an zu verstehen, wie viel mehr Macht sie der EU übertragen haben“, meint dazu ein Eurokrat. Doch wer soll diese Macht kontrollieren? Das Europäische Parlament ist ein mangelhaftes Organ in einem mangelhaften System. Kann es den Verlust nationaler Souveränität wettmachen?

Manche glauben das. Letzten Monat ging Mario Monti nach Straßburg, um das Parlament für die harte Überprüfung der Kommission (zu der er selbst einmal gehörte) zu loben. In einem gemeinsamen Artikel mit der französischen EU-Abgeordneten Sylvie Goulard gab er den nationalen Demokratien die größte Schuld an der Krise. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht von einer zukünftigen „politischen Union“, mit einem starken Parlament und einem direkt gewählten Kommissionspräsidenten.

Für andere wiederum ist das Parlament nicht die Lösung, sondern ein Teil des Problems. Der ehemalige britische Außenminister Jack Straw befürwortete vor kurzem seine Abschaffung. Das „Demokratiedefizit“, so sagte er, werde durch eine Sitzung nationaler Abgeordneter besser gestopft als durch ein direkt gewähltes Organ. Das deutsche Verfassungsgericht urteilte 2009 unter anderem, dass das EU-Parlament nicht legitimiert ist, vom Bundestag die Kontrolle über das Budget zu bekommen. Also haben die EU-Abgeordneten Einfluss darauf, wie das Geld ausgegeben, nicht aber wie es aufgebracht wird.

Der Ministerrat betrachtet das Parlament wie einen trotzigen Teenager: EU-Abgeordnete denken, sie verstünden das Interesse Europas besser als die Minister; sie schwingen große Reden, messen sich am amerikanischen Congress, ohne über seine Mittel zu verfügen; sie drängen ständig nach mehr Macht und mehr Geld und sie wollen immer mehr Europa, ganz gleich was die Wähler denken. Auch Kommissionsbeamte zeigen sich (unter vier Augen) verbittert. Das Europäische Parlament ist zwar oft ihr Verbündeter, so sagen sie, doch es hat die Macht, die Kommission zu entlassen, und trägt keine der Kosten für seine Handlungen.

Die Macht kommt aus den Staaten

Es gibt keine elegante Lösung für das Demokratieproblem in einem System, das teils zwischen- und teils bundesstaatlich organisiert ist. Es ist schwer zu argumentieren, Brüssel brauche weniger direkte Demokratie, wenn es mehr Macht erlangt. Die EU-Geschäfte sind heute zu anspruchsvoll, um von Teilzeitkräften ausgeführt zu werden.

Man werfe nur einen Blick auf den Nachbarn des Europäischen Parlaments in Straßburg, den Europarat (ein älteres Organ, das von der EU getrennt ist): Dort tagen nationale Abgeordnete, die zweimal jährlich zusammentreten, doch seine Arbeit ist so undurchsichtig, dass die britischen Konservativen dort Verbündete von Wladimir Putins Partei „Einiges Russland“ sein können.

Legitimität erfordert Reformen sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Die 754 Abgeordneten des Europäischen Parlaments sollten stark ausgelichtet werden, ebenso wie seine überhöhten Kosten. Seine Funktionsweise umfasst zu viele bequeme Abkommen unter den großen Parteibündnissen Europas. Abgesehen davon werden die Länder von zentraler Bedeutung für die EU bleiben, ganz gleich wie weit sie integriert sind. Die Macht und das Geld der EU kommen von den Staaten.

Die EU-Gesetze werden durch die nationalen Regierungen umgesetzt. Vor allem ist Politik vorwiegend national. Also müssen die nationalen Parlamente stärker in die Arbeit der EU einbezogen werden, angefangen bei einer näheren Überprüfung ihrer Strategien. Das dänische System, in welchem das Folketing (Parlament) den Verhandlungsmandaten der Minister zustimmt, bevor diese nach Brüssel gehen, ist ein gutes Beispiel. Trotz all seiner Schwächen wird das europäische Parlament nicht verschwinden. Alle an Bord des nächsten Zugs nach Straßburg.

Meinung

„Pro-europäische Lobby”

Am 15. März hat das EU-Parlament mit einer Entschließung den niederländischen, liberalen Ministerpräsident Mark Rutte „energisch“ aufgefordert, sich von einer Webseite der populistischen Freiheitspartei (PVV) von Geert Wilders zu distanzieren. Auf der Internetseite wird zur Denunziation ausländischer Arbeiter aufgerufen. Für die EU-Abgeordneten stellt die Webseite einen „Angriff auf die europäischen Werte und Prinzipien“ dar. In De Volkskrant stellt Martin Sommer fest, dass Rutte...

von einer breiten Koalition, von Kommunisten bis hin zu Konservativen, ins Gebet genommen wurde. Aber diese starke Allianz hat sich nicht erst mit der PVV-Internetseite gebildet. Es ist jeden Monat das gleiche Spiel.

Sommer bedauert, dass sich das EU-Parlament nicht auf herkömmliche demokratische Regeln berufen kann:

Es gibt keine Regierung und keine Opposition. Es gibt nur das EU-Parlament, was in seinem und im Namen der ganzen Welt spricht [...] Ohne demokratische Debatte, um eine normale Mehrheit zu erzielen, will es eine größtmögliche Mehrheit erhalten. Denn die Maxime lautet, im Interesse Europas zu handeln, mit Ausnahme einiger trauriger Euroskeptiker.

Das EU-Parlament, schlussfolgert Martin Sommer, funktioniert wie „eine gutbezahlte Lobby für die europäische Idee”.

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