Ideen Europa und der Nahe Osten

An der Reaktion auf den Krieg zwischen Israel und Hamas zeigt sich Europas Schwäche – zur Freude seiner Rivalen

Wäre die Europäische Union geeint, hätte sie eine entscheidende Rolle bei der Deeskalation des Konflikts spielen können. Aber sie ist gespalten, und das kommt Russland und China zugute, meint die Politikwissenschaftlerin Natalie Tocci.

Veröffentlicht am 10 November 2023 um 18:02

Der schlimmste Gewaltausbruch im israelisch-palästinensischen Konflikt seit Jahrzehnten, ausgelöst durch den schrecklichen Angriff der Hamas am 7. Oktober und die unverhältnismäßige militärische Antwort Israels, markiert einen Wendepunkt beim Abbröckeln der Rolle Europas in der Welt.

Noch vor wenigen Monaten zeigte sich Europa langsam aber sicher als Einheit. Nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert war, konnte die Ukraine dank des Mutes ihrer Bürger*innen und der Militärhilfe der USA standhalten. Die Hilfe Washingtons übertraf bei weitem das, was die Europäer gemeinsam aufbringen konnten. Doch als sich der Krieg in die Länge zog, stellten sich die europäischen Regierungen der Herausforderung.

Die politische Einigkeit bei der Unterstützung der Ukraine hat trotz der Rückschläge, die vor allem Viktor Orbáns Ungarn verursacht hat, gehalten. Elf Sanktionspakete gegen Russland, die Aufnahme von Millionen ukrainischer Geflüchteter, der Sieg über Moskaus Versuch, Europas Energieabhängigkeit als Waffe einzusetzen, und die anhaltende Aufstockung der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung waren die Säulen einer konzertierten Strategie. Die Europäische Union hat die Diskussionen über den Beitritt neuer Mitglieder entschlossen wieder aufgenommen und erkannt, dass die Erweiterung nach der Invasion der Ukraine ein strategisches Gebot ist.

Die transatlantischen Beziehungen sind unterdessen gut: Das Band zwischen den USA und Europa war seit den 1990er Jahren nicht mehr so stark. Im Großen und Ganzen hat Europa seine Energiewende durch die Einigung auf den Grünen Deal vorangetrieben, die wirtschaftliche und technologische Sicherheit gestärkt, um seinen Weg inmitten der wachsenden Rivalität zwischen den USA und China zu finden, und nach Möglichkeiten gesucht, die Länder des globalen Südens einzubinden.

Dies geschah durch diplomatische Kontakte und einen neuen Impuls für die 300 Milliarden Euro schwere „Global Gateway“-Initiative, die grünes Wachstum und den Bau von Infrastruktur fördern soll. Die direkte Verbindung, die zwischen dem Global Gateway und dem auf dem G20-Gipfel in Delhi im September ins Leben gerufenen Wirtschaftskorridor Indien-Mittlerer Osten-Europa (IMEC) hergestellt wurde, zeigt, dass Europa seine Politik neu gestalten muss, um sie für die Länder des globalen Südens attraktiver zu machen.

Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, erklärte bei ihrem Amtsantritt im Jahr 2019, dass sie eine „geopolitische Kommission“ leiten wolle. Die meisten von uns verstanden darunter eine EU, die in der Lage ist, im Namen ihrer 450 Millionen Bürger*innen in einer Welt mit gefährlich wachsenden geopolitischen Rivalitäten zu navigieren. Und bis vor ein paar Monaten schien sich tatsächlich ein geopolitisches Europa anzubahnen.

Doch dann begann alles schief zu gehen. In Westafrika wurde Europa, im Wesentlichen vertreten durch Frankreich, verjagt, da sein kolonialer Ballast zu schwer war, um die zehnjährige Militäroperation zur Ausrottung dschihadistischer Kräfte in der Sahelzone und der Sahara zum Erfolg zu führen. Eine Reihe von Militärputschen, gepaart mit dem Zusammenbruch der Regierungen, den verheerenden Auswirkungen der Klimakrise, der Ernährungsunsicherheit und der zunehmenden Abwanderung, deuten alle auf ein massives Versagen der europäischen Politik hin. Das, was Brüssel seinen „integrierten Ansatz“ nennt, bei dem die Verbesserung der Sicherheit für dem Westen freundlich gesinnte afrikanische Regierungen mit Entwicklungshilfe und demokratischen Reformen kombiniert werden soll, ist zum Scheitern verurteilt.

Dann lenkten die EU-Staats- und Regierungschefs ihren Blick nach Nordafrika, wo im Juli dieses Jahres eine dubiose Vereinbarung über Geld für das Zurückhalten von Migrant*innen unterzeichnet wurde. Vorangetrieben wurde die Initiative von der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Das Ziel bestand darin, die Dienste Tunesiens als Torwächter zu kaufen, der Migrant*innen an der Überfahrt über das Mittelmeer hindert. Wie vorauszusehen war, lehnte der tunesische Diktator Kais Saied die Vereinbarung später ab, weil er sein Geld haben wollte, ohne irgendwelche Bedingungen zu erfüllen.

Diese kurzsichtige Politik liegt nun in Trümmern. Stattdessen versteckt die EU ihren Mangel an Vision hinter afrikanischen Organisationen: Nach dem Putsch in Niger im August waren es die Mitgliedsregierungen der Ecowas, die den Rädelsführern ein Ultimatum zur Wiederherstellung der Demokratie stellten. Europa begnügte sich damit, zu wiederholen, es habe schon immer „afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme“ für richtig gehalten. So verlockend der Slogan auch klingt – dahinter verbirgt sich lediglich, dass Europa nicht weiß, was es tun soll.

Auf dem westlichen Balkan ist die Lage – noch – nicht ganz so schlimm, aber trotz der Wiederbelebung der EU-Beitrittsperspektive für die Kandidatenländer ist die Gewalt zwischen Serbien und dem Kosovo wieder aufgeflammt. Auch hier war die EU hilflos, geschweige denn in der Lage, eine diplomatische Einigung zwischen Belgrad und Pristina herbeizuführen.


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Weitaus schlimmer ist die Situation im Kaukasus. Fairerweise muss man sagen, dass die Versäumnisse der EU nicht auf mangelnde Anstrengungen zurückzuführen sind. Der Vermittlung des Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, ist es zu verdanken, dass nach dem Krieg von 2020 ein Abkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan zustande kam. Dieses scheiterte jedoch, als der Konflikt durch die Belagerung von Karabach durch Aserbaidschan, die anschließende militärische Übernahme und die ethnische Säuberung fast aller 120.000 Armenier*innen aus der Enklave in Gewalt umschlug. Und wir können immer noch nicht sagen, dass es vorbei ist, da Aserbaidschan, unterstützt von der Türkei und implizit von Russland, einen Korridor durch souveränes armenisches Gebiet beansprucht, um eine Verbindung zu seiner Exklave Nachitschewan herzustellen, den es mit militärischer Gewalt zu erobern versuchen könnte.

Seit dem erneuten Ausbruch des Krieges im Nahen Osten wird das ganze Ausmaß der Enttäuschung über die schwindenden Ambitionen des „geopolitischen Europas“ deutlich. Wie die USA und die Golfmonarchien hatte auch Europa implizit an das zynische israelische Narrativ geglaubt, eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts könne umgangen werden. Israels überwältigende Gewalt und Unterwerfung der Palästinenser*innen sowie die Eliminierung der palästinensischen Frage aus der regionalen Gleichung durch die Normalisierung der Beziehungen Israels zur arabischen Welt sind Teil einer ausgefeilten Strategie. Damit wurde implizit akzeptiert, dass Stabilität im Nahen Osten ohne eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts möglich ist.

Diese Politik wurde erstmals im Jahr 2020 von Donald Trump durch die Unterzeichnung des Abraham-Abkommens zwischen Israel einerseits und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Sudan und Marokko andererseits unterstützt. Derselbe Ansatz wurde unter Joe Biden verfolgt. Ein Normalisierungsabkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien wäre sein größter Erfolg gewesen. Europa fiel unterdessen in seine traditionelle Rolle im Nahen Osten zurück: Es spielte die zweite Geige hinter den USA. Ein Beweis dafür ist die IMEC-Initiative, an der Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien sowie Indien und die Europäische Union beteiligt sind.

Durch die Umgehung der Palästinenserfrage konnte die EU zumindest dem Problem ausweichen, dass ihr eigener, hart erkämpfter interner Konsens über den Konflikt – eine Zweistaatenlösung auf der Grundlage der Grenzen von 1967 – ins Wanken geraten war. Die EU-Regierungen, die sich bedingungslos auf die Seite Israels gestellt hatten, hatten damit begonnen, passiv zu verfolgen, wie die Regierung von Benjamin Netanjahu die Zweistaatenlösung untergrub und ablehnte.

Die tragischen Ereignisse in der Region seit dem 7. Oktober haben die Widersprüche Europas auf brutale Weise offengelegt. Es gab eine verwirrende Kakophonie von Stimmen, die von der Aussetzung und Wiederaufnahme der EU-Hilfe für die Palästinenser*innen bis hin zu zweideutigen Äußerungen über die Notwendigkeit der Selbstverteidigung Israels in Übereinstimmung mit dem humanitären Völkerrecht reichten.

Während einige europäische Staats- und Regierungschefs, wie Michel oder der EU-Spitzendiplomat Josep Borrell, sich klar zu Israels rechtlichen Verpflichtungen geäußert haben, waren andere, darunter Von der Leyen, äußerst zweideutig, was zu Reibereien innerhalb und außerhalb der europäischen Institutionen führte. Semantisch mögen die Unterschiede marginal erscheinen; politisch sind sie jedoch so groß wie der Unterschied, ob man sich einem Feuer mit einem Wasserschlauch oder einem Benzinkanister nähert.

Als es so aussah, als ob Europas Ansatz den Tiefpunkt erreicht hätte, hat die EU weiter gegraben. Die europäischen Regierungschef*innen stritten darüber, ob sie zu einer humanitären Pause bei der Bombardierung des Gazastreifens oder zu einem Waffenstillstand aufrufen sollten, und einigten sich schließlich auf die weitaus schwächere erste Formulierung. Doch kaum war diese Einigung im Europäischen Rat zustande gekommen, spalteten sich die 27 EU-Länder in der Generalversammlung der Vereinten Nationen in drei Lager: Acht stimmten für eine jordanische Resolution, die einen Waffenstillstand und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts forderte, 15 enthielten sich und vier stimmten dagegen.

Frankreich hat dafür gestimmt, doch einige Tage zuvor hatte der französische Präsident Emmanuel Macron zur Verwirrung beigetragen, indem er die Reaktivierung der Koalition gegen den Islamischen Staat zur Bekämpfung der Hamas vorschlug. Dieser Vorschlag war in fast jeder Hinsicht inakzeptabel und schien kaum mehr als ein Augenzwinkern an Netanjahu zu sein, der die Parallele „Hamas = ISIS“ gezogen hat.

Das Zerbrechen der europäischen Einigkeit angesichts des israelisch-palästinensischen Konflikts mag letztlich nur eine Fußnote in der langen Geschichte des diplomatischen Versagens in dieser Tragödie sein. Aber man sollte ihm eine größere Bedeutung beimessen.

Es war die Europäische Gemeinschaft, die 1980 erstmals das legitime Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anerkannte, und die Union war es, die in den späten 1990er Jahren formulierte, was eine Zweistaatenlösung tatsächlich bedeuten könnte. Darüber hinaus ist die EU nach wie vor der größte Handelspartner Israels und der größte Geber von Hilfsgeldern für die Palästinenser*innen. Mit einer mutigeren und kohärenteren Führung hätte Europa in diesem Konflikt eine weitaus konstruktivere Rolle spielen können.

Und obwohl die Auswirkungen der Spaltungen bisher nur intern zu spüren sind, könnte sich dies ändern, wenn die Verbitterung anhält und das Ringen um einen internen Konsens die Energie für konstruktive Maßnahmen an anderer Stelle, auch in der Ukraine, aufzehrt.

Während der Nahe Osten brennt und die USA, wenn auch einseitig, versuchen, das Feuer einzudämmen, schauen Russland und China mit süffisanter Freude zu. Angesichts der Tatsache, dass sich die Hoffnungen auf ein geopolitisches Europa vor unseren Augen in Luft auflösen, sagen einige vielleicht: „Na und?“. Die Antwort lautet: In einer Welt, in der Zersplitterung, Polarisierung, Konflikte und Gewalt die Oberhand gewinnen, brauchen wir eine multilaterale Union, die geeint ist und ihren demokratischen Grundsätzen gerecht wird – sowohl für die europäischen Bürger*innen als auch für den Rest der Welt.

👉 Originalartikel auf The Guardian

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