Die kranken Männer Europas: EU-Länder vor der Wirtschaftskrise

Infolge der globalen Finanzkrise von 2008 wächst die Wirtschaft der USA deutlich schneller als die der EU, während ehemalige europäische Musterschüler sogar unter dem EU-Durchschnitt liegen. Außerdem Thema unserer monatlichen Presseschau in Zusammenarbeit mit Display Europe: Warum Italien sich aus Chinas neuem Seidenstraßen-Projekt verabschiedet und wie sich Portugal nun mit seiner Übergangsregierung arrangieren muss.

Veröffentlicht am 13 Dezember 2023 um 11:08

Nach Italien, Griechenland, Frankreich und Deutschland ist jetzt auch die Wirtschaft Tschechiens in Not, berichtet Die Welt. Tschechien ist das einzige EU-Mitglied, dessen Wirtschaft sich nach der Covid-19-Pandemie noch nicht wieder erholt hat. Die Welt macht dafür zum Teil die mangelnde Energieeffizienz der tschechischen Unternehmen verantwortlich, die von der Energiekrise nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine besonders schwer getroffen wurden. Doch die Probleme des in der EU am stärksten industrialisierten Landes scheinen tiefer zu liegen und erfordern eine Abkehr von seinem aktuellen Wachstumsmodell, das auf qualifizierten Arbeitskräften und niedrigen Arbeitskosten beruht.

„Das Modell stieß an seine Grenzen, als sich Wohlstand und Löhne in Tschechien an das westeuropäische Niveau anglichen und damit ein entscheidender Wettbewerbsvorteil verloren ging“, heißt es in dem Artikel: „Die tschechische Wirtschaft ist zu kostspielig, um mit Niedriglohn-Ländern konkurrieren zu können, aber sie ist technologisch noch nicht fortschrittlich genug, um beispielsweise mit Deutschland Schritt zu halten“. Das tschechische Szenario ist jedoch auch eine Warnung für Deutschland selbst, das vor ähnlichen Problemen steht. Um den Wohlstand aufrechtzuerhalten, sind strukturelle Veränderungen erforderlich, darunter die Beendigung von Subventionen für Industrien, die langfristig nicht tragfähig sind, außerdem höhere Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung, Bürokratieabbau und Investitionen in Maschinen, Roboter und Software, um die schwindenden Arbeitskräfte zu ersetzen.

Auch der Spiegel berichtet über die düstere Prognose für Europas stärkste Volkswirtschaft, die nach der Tschechischen Republik derzeit das zweitletzte Wachstum in der EU verzeichnet. Die Hamburger Tageszeitung führt die Stagnation der deutschen Wirtschaft auf den starken Anstieg der Energiepreise infolge des russischen Einmarsches in der Ukraine und dem damit verbundenen allgemeinen Preisanstieg zurück; außerdem auf die geopolitische Instabilität und den deutlichen Wachstumsrückgang der Weltwirtschaft.

Dem Tagesspiegel zufolge ist auch die Überalterung der deutschen Bevölkerung Teil des Problems: „Immer weniger Beschäftigte müssen immer mehr Rentner finanzieren“, während die Lösung durch zugewanderte Fachkräfte seitens der immer stärker werdenden Rechtspopulisten behindert wird. Deutschland stehe damit vor dem möglichen Verlust seines Wohlstandsmodells, was „nicht zu einer kurzfristigen Panik, sondern zu einem totalen gesellschaftlichen Zusammenbruch“ führen könnte.

Im benachbarten Österreich zitiert der Standard den ehemaligen sozialdemokratischen Bundeskanzler Christian Kern, der daran erinnert, dass „das deutsche Problem ein Europa-Problem ist“. Weiterhin bezeichnet er Deutschland als „die Lokomotive, die nicht ausfallen darf“. Mittlerweile beginnt sich die Rezession auch auf den Arbeitsmarkt in Österreich auszuwirken, wo fast eine Viertelmillion Menschen auf Arbeitssuche sind, was einem Anstieg von 11% gegenüber dem Vorjahr entspricht. Ein Beschäftigungswachstum sei nur im öffentlichen Sektor zu beobachten, stellt die Zeitung fest.
Auch am anderen Ende Europas ist wenig Optimismus spürbar: „Über 80% der Portugiesen befürchten, dass sich ihr Lebensstandard im Jahr 2024 verschlechtern wird“, titelt Público und verweist darauf, dass soziale Fragen und der Kampf gegen Armut zentrale Themen bei den bevorstehenden Europawahlen sein werden. Obwohl Portugal mit einem Wachstum von 1,5% zu den europäischen Spitzenreitern gehört und im vergangenen Jahr sogar den schnellsten Anstieg verzeichnete, sei die Sorge um die Wirtschaft nach wie vor groß, berichtet das Jornal de Negócios.


Zum gleichen Thema

Die Vereinigten Staaten stürmen voran, während Europa zurückbleibt. So lautet die Schlagzeile der tschechischen Tageszeitung Hospodářské noviny, die sich dabei auf eine Studie des Brüsseler Forschungsinstituts ECIPE beruft. Dieser Untersuchung nach würden die EU-Länder, wenn sie Teil der Vereinigten Staaten würden, zu den ärmsten in Bezug auf das BIP pro Kopf gehören - selbst Schwergewichte wie Deutschland und Frankreich. Seit der Finanzkrise von 2008-2009 liegt die Wachstumsrate Amerikas deutlich über dem EU-Durchschnitt. „Wenn sich der Trend fortsetzt, wird das Wohlstandsgefälle zwischen dem Durchschnittseuropäer und dem Durchschnittsamerikaner im Jahr 2035 so groß sein wie heute zwischen dem Durchschnittseuropäer und dem Durchschnittsinder“, so der schockierende Vergleich der Studie. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Zu den kurzfristigen Faktoren gehören die unterschiedlichen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die europäische und die amerikanische Wirtschaft. Ein langfristiger Grund ist der Vorsprung der Amerikaner im Bereich innovativer Technologieunternehmen, denen Europa nichts entgegenzusetzen hat.


Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Auch die unterschiedlichen Finanzierungsmodelle für den grünen Übergang spielen eine Rolle: Die Regierung Biden hat diesen Wandel mit erheblichen Steuererleichterungen unterstützt. In der EU hingegen wird dieses wirksame Instrument durch das Fehlen eines einheitlichen Steuersystems behindert. Zudem erschwert der unterentwickelte Kapitalmarkt in Europa die Finanzierung neuer Unternehmen. Die Europäische Kommission schlug deshalb 2014 einen einheitlichen Kapitalmarkt in der EU vor, um die Unternehmensfinanzierung zu erleichtern, aber dieser Vorschlag wurde bisher nicht angenommen. Eine weitere Herausforderung für die EU-Staaten ist die alternde Bevölkerung. Im Gegensatz dazu steigt in den USA die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter weiter an. Viele Unternehmen, auch in der Tschechischen Republik, haben Schwierigkeiten, in Europa Mitarbeiter zu finden. Das Produktivitätswachstum ist in den USA deutlich höher als in der EU, was auf höhere Investitionsraten, einen größeren Anteil an FuE-Ausgaben und wesentlich niedrigere Energiepreise für amerikanische Unternehmen zurückzuführen ist. 


Weitere Themen 

Italien steigt aus der Seidenstraße aus

Marco Galluzzo | Corriere della Sera | 6. Dezember | IT

„Italien verlässt die Seidenstraße: Abschiedsbrief an Peking übergeben“, titelt der Corriere della Sera. Laut der Mailänder Tageszeitung ist Rom nach vier Jahren aus dem „pharaonischen und milliardenschweren Projekt des chinesischen Staatschefs Xi Jinping ausgestiegen – eine Initiative, die die Regierung Giuseppe Conte verführt und Amerika sowie andere Verbündete verärgert hat“. Die italienische Regierung hatte mit dem Rückzug gezögert, weil sie die freundschaftlichen Beziehungen zu Peking aufrechterhalten wollte. China kritisierte die Entscheidung, nannte das Land aber nicht direkt beim Namen. Die gemachten Erfahrungen Italiens zeigen, dass das Projekt in erster Linie für Peking von Vorteil und für andere Länder wenig interessant ist. Im Rahmen der Zusammenarbeit sollten bis zu 20 Milliarden Euro von chinesischen Investitionen nach Italien fließen, doch nur ein Bruchteil davon kam an. Die Zeitung wirft nun die Frage nach möglichen kommerziellen Vergeltungsmaßnahmen Pekings auf, insbesondere im Bereich der Luxusgüter. Die möglichen Auswirkungen werden jedoch erst in den kommenden Monaten spürbar werden.

Übergangsregierung soll Portugal auf vorgezogene Wahlen vorbereiten

Vítor Moita Cordeiro | Diário de Notícias | 7. Dezember | PT

Am 8. Dezember hat die portugiesische Übergangsregierung ihr Amt unter der Führung des scheidenden sozialistischen Ministerpräsidenten António Costa angetreten, der genau einen Monat zuvor wegen einer Korruptionsaffäre zurückgetreten war. Diário de Notícias weist darauf hin, dass Costa zwar formell Regierungschef bleibt, aber nur Maßnahmen ergreifen darf, die „für die Erledigung der öffentlichen Angelegenheiten unbedingt erforderlich sind“. Außerdem muss er das Land auf die vorgezogenen Wahlen am 10. März 2024 vorbereiten. Gegen Costa wird wegen möglicher Korruption im Zusammenhang mit der Erteilung von Genehmigungen für den Lithiumabbau und der Produktion von sogenanntem grünen Wasserstoffs ermittelt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat bereits Anklage gegen Infrastrukturminister João Galamba erhoben, und die Polizei hat Costas Amtssitz sowie mehrere Ministerien durchsucht sowie mehrere Personen aus dem Umfeld des Premierministers festgenommen. Costa, der Portugal seit 2015 regiert und der dienstälteste amtierende europäische Premierminister war, hat es geschafft, Investitionen anzuziehen und die finanzielle Stabilität des Landes nach Jahren der Sparmaßnahmen, die als Reaktion auf die europäische Schuldenkrise eingeführt wurden, wiederherzustellen.

In Zusammenarbeit mit Display Europe, kofinanziert von der Europäischen Union. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind jedoch ausschließlich die des Autors/der Autoren und spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Union oder der Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologie wider. Weder die Europäische Union noch die Bewilligungsbehörde können für sie verantwortlich gemacht werden.
ECF, Display Europe, European Union

Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie Journalismus, der nicht an Grenzen Halt macht.

Nutzen Sie unsere Abo-Angebote oder stärken Sie unsere Unabhängigkeit durch eine Spende.

Zum gleichen Thema