Presseschau Kritische Osten

„Wenn Ihnen Russland nicht gefällt, gehen Sie!“

In ihrer Presseschau zu aktuellen Ereignissen in Osteuropa und den baltischen Staaten in Zusammenarbeit mit Display Europe und Krytyka Polityczna geht Paulina Siegien auf den Tod eines belarusischen Exilanten in Polen, die Annäherung Georgiens an die EU und auf Russland ein, das den Krieg zähmt und sich darauf vorbereitet, der Ukraine einen weiteren Winter unter den Bomben zu bescheren.

Veröffentlicht am 23 November 2023 um 12:44

Belarusischer Flüchtling in polnischem Gefängnis erhängt aufgefunden

Im Jahr 2020 nahm Kiryl Kieturka als 16-jähriger an den Protesten nach den Wahlen in Belarus teil. Im Jahr 2022, als er 18 Jahre alt war, standen die Behörden vor seiner Tür. Nachdem er drei Monate in Hrodna (nahe dem Dreiländereck mit Polen und Litauen) in Haft verbracht hat, wurde der junge Mann zu zweieinhalb Jahren Hausarrest verurteilt. Er selbst und seine elektronischen Geräte werden streng von der Polizei überwacht.

Als er ins Gefängnis geschickt werden sollte, nachdem er ein Jahr Hausarrest verbüßt hatte, floh Kiryl nach Polen. Im Frühjahr 2023 erzählte er dem belarusischen Medium Most, das auf Migration spezialisiert ist, seine Teilnahme an den Demonstrationen, seine Erfahrungen im Gefängnis und seine Flucht. Im Oktober wurde Kiryl als vermisst gemeldet. Später fand man ihn erhängt in einem Gefängnis in der Hauptstadt.

Kiryls Tod schockierte die gesamte belarusische Diaspora in Polen und weckte auch zahlreiche Verdachte. Kiryl wurde angeblich verhaftet, weil er an einem Telefonbetrug beteiligt gewesen sein sollte, der zum Ziel hatte, Bankdaten zu erbeuten. Weitere Informationen über seine vorgebliche Beteiligung liegen uns jedoch nicht vor. Aufgrund der zahlreichen Reaktionen von in Polen lebenden Belarus*innen beschloss die Justiz, Ermittlungen zu diesem Selbstmordfall einzuleiten.

Diese Geschichte erinnert an die schwierige Situation, in der sich Geflüchtete und Migrant*innen in Polen befinden. Selbst ältere Menschen, die über ein gewisses Kapital, Ersparnisse oder einen guten Job verfügen, tun sich angesichts der Herausforderungen, die eine Auswanderung mit sich bringen kann, schwer. Was passiert also mit einem 19-Jährigen, der sich von einem Tag auf den anderen in einem fremden Land wiederfindet? Das Fehlen einer Migrationspolitik in Polen wird zu einem immer drängenderen Problem, aber die neue Regierung scheint nicht entschlossen zu sein, dies zu einer Priorität zu machen. Das beweist auch der Koalitionsvertrag, in dem sich niemand die Mühe gemacht hat, das Thema zu erwähnen.

Georgien: Russische Regierung, pro-europäische Gesellschaft

In der georgischen Gesellschaft herrscht eine pro-europäische Stimmung vor. Das Land könnte sich heute in der gleichen Situation wie die Ukraine und Moldawien befinden (seine Kandidatur für den Beitritt zur Europäischen Union validiert, Anm. d. Red.), wenn seine Regierung nicht von der Partei Georgischer Traum (KO-DS, catch-all) – einer Partei mit ausgeprägter prorussischer Orientierung, die von dem mit dem Kreml verbundenen Oligarchen Bidzina Iwanischwili gegründet wurde – geführt würde.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, erinnerte daran, dass das Land noch eine Reihe von Reformen durchführen muss, die für die europäische Integration notwendig sind. Die Georgier*innen sind erfreut, aber wie das georgische Medium Sova betont, ist die Entscheidung der Europäischen Kommission vor allem geopolitisch und basiert auf einer Gewinn- und Verlustrechnung.

Hätte Georgien nicht den Status eines Kandidatenlandes erhalten, wäre es gegenüber der Ukraine und Moldawien im Beitrittsprozess nicht nur um einen, sondern um zwei Schritte zurückgefallen. Es ist daher besser, das Land zu ermutigen, als es ins Abseits zu drängen. Andernfalls droht der georgischen Gesellschaft eine grausame Desillusionierung, und Georgien würde noch weiter in die Arme Putins getrieben.


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Moldawien: Der russischen Peitsche entkommen

Moldawien hat eine gewaltige Arbeit geleistet, um das Land zu reformieren und sein politisches System vom russischen Einfluss zu säubern, der von dem Oligarchen Ilan Shor und dem ehemaligen Präsidenten Igor Dodon verkörpert wird.

Letzterer äußerte Skepsis gegenüber der Entscheidung der Europäischen Kommission und behauptete, dass Moldawien bislang keinen Nutzen aus der Annäherung an die EU gezogen habe. Glücklicherweise lässt die Entschlossenheit des pro-europäischen Teils der moldawischen Gesellschaft und der Behörden – auf internationaler Ebene vertreten durch Präsidentin Maia Sandu – hoffen, dass das Land die ihm gebotene Chance nicht verpassen wird. Sandu kündigte an, dass Moldawien bis 2030 Mitglied der EU werden wird.

Russland hat den Krieg gezähmt

Im Frühjahr 2022 wollte die in St. Petersburg lebende russische Künstlerin Sasha Skotschilenko den Russen die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine offenbaren. Oder es zumindest versuchen.

In einem Geschäft der russischen Supermarktkette Perekrestok tauschte die Künstlerin die Preise der Produkte gegen Etiketten aus, die Informationen über die Lage in der Ukraine enthüllten. Hinter den kleinen durchsichtigen Plastikfenstern stand zum Beispiel: „Die russische Armee hat eine Kunstschule in Mariupol bombardiert. Etwa 400 Menschen hatten sich dort abgeschottet, um den Bombardierungen zu entgehen.“

Eine Rentnerin bemerkte die „neuen Preise“ und wandte sich an die Polizei. Die Behörden leiteten ein Verfahren auf der Grundlage des Gesetzes ein, das die Verbreitung „falscher Informationen“ über die russische Armee unter Strafe stellt; die Künstlerin wurde aufgespürt und festgenommen. Skotschilenko befindet sich seit dem 11. April 2022 in Haft. Die Staatsanwaltschaft forderte acht Jahre Haft für die Künstlerin, und das Gericht gab am 16. November eine Strafe von sieben Jahren bekannt.

In ihren letzten Worten – wahrscheinlich die einzige Art von unzensierter Rede in Russland heute – erklärte Skotschilenko, dass sie trotz des Drucks, dem sie im letzten Jahr ausgesetzt war, ihre Schuld nicht eingesteht.

Das unabhängige russische Medium Bumaga sprach mit der 76-jährigen Frau, die Skotschilenko angezeigt hat. Sie gesteht, dass sie stolz auf ihre Reaktion auf dieses Vergehen ist. „Wenn Ihnen Russland nicht gefällt, gehen Sie!“ rät sie Menschen, die das Regime und den Krieg kritisieren. Russland hat den Krieg gezähmt und sich darin eingerichtet. Putins nächste Wahlen finden im zeitigen Frühjahr statt und seine Kampagne – die offiziell noch nicht begonnen hat – dürfte sich vom Thema Krieg distanzieren.

Ein neuer Kriegswinter für die Ukraine: Russland bereitet sich darauf vor, der Ukraine das Leben zur Hölle zu machen ... genau wie Ungarn

In diesem Jahr wird Russland besonders die ukrainischen Kraft- und Wärmekraftwerke ins Visier nehmen, um die Bevölkerung von Heizung und Strom abzuschneiden. Gleichzeitig zeichnen sich politische Spannungen zwischen dem Büro von Präsident Zelensky und der militärischen Führung ab: Sollen in Kriegszeiten Wahlen abgehalten werden oder nicht? Die Möglichkeit, dass Ungarn den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union blockieren könnte, beunruhigt ebenfalls, erklärt Serhii Sydorenko in dem Medium European Pravda. Vor dem Gipfeltreffen des Europäischen Rates – das Mitte Dezember stattfinden und grünes Licht für den Beginn der Beitrittsverhandlungen geben soll – möchte der ungarische Premierminister Viktor Orbán neue „nationale Konsultationen“ über den Beitritt der Ukraine zur EU abhalten.

Viktor Orbán möchte die Ergebnisse dieser Konsultationen auf dem Gipfeltreffen vorlegen. Gerüchten zufolge könnte die Frage an die Bevölkerung so formuliert werden, dass sie suggeriert, der Beitritt der Ukraine zur EU hätte eine Ausweitung des Krieges auf den Kontinent und damit auch auf die ungarischen Haushalte zur Folge.

Die eigentliche Frage, die es zu stellen gilt, betrifft Orbáns wahre Absichten hinter diesem Schritt. Will er die anderen EU-Mitglieder erpressen und irgendeinen Vorteil aushandeln? Ist dies Teil seiner Kampagne vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament? Oder hat Orbán vielleicht einfach keine andere Wahl, als – aus Dankbarkeit – die Interessen des Kremls zu verfolgen? 

In Zusammenarbeit mit Display Europe, kofinanziert von der Europäischen Union. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind jedoch ausschließlich die des Autors/der Autoren und spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Union oder der Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologie wider. Weder die Europäische Union noch die Bewilligungsbehörde können für sie verantwortlich gemacht werden.
ECF, Display Europe, European Union

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