Analyse EU-Erweiterung

Georgien und die EU: In weiter Ferne, so nah!

Trotz der Absage im letzten Jahr hat Georgien 2023 erneut die Möglichkeit, den Kandidatenstatus der EU zu erhalten. Die Mehrheit der georgischen Bevölkerung befürwortet eine EU-Mitgliedschaft.

Veröffentlicht am 20 Juni 2023 um 09:24

„Georgien gehört zur EU, und die Menschen Georgiens gehören in die EU“, sagte Annalena Baerbock in ihrer Rede während ihres Besuchs in Georgien im März dieses Jahres. Sie drückte zu diesem Anlass ihre Unterstützung für den EU-Kandidatenstatus Georgiens aus. Das Ziel dieser Reise der deutschen Außenministerin war es, einen direkten Austausch zwischen beiden Ländern zu fördern, die Zusammenarbeit zu vertiefen und Georgien bei der Annäherung an die EU und die NATO sowie bei den erforderlichen Reformen zu unterstützen. 

Nachdem Georgien im letzten Jahr von der EU-Kommission eine Absage für den Kandidatenstatus erhalten hatte, war der Besuch von besonderer Bedeutung und erweckte bei der georgischen Bevölkerung große Hoffnung, dass es diesmal mit dem Schritt Richtung EU klappen würde.

Wer will in die EU? Und warum Georgien?

Laut verschiedenen Studien möchten die meisten Georgier:innen in die EU. Eine im März veröffentlichte Studie des International Republican Institute (IRI) ergab, dass 89 % der Bevölkerung einen Beitritt zur EU befürworten und 80 % auch der NATO beitreten möchten. Dieser Wunsch wird von den Georgier:innen in verschiedenen Situationen zum Ausdruck gebracht, wie beispielsweise bei Kundgebungen im März gegen das „Agentengesetz“, das Medien und Organisationen, die aus westlichen Mitteln finanziert werden, als Agenten einstufen wollte. 


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Auch bei einer der größten Demonstrationen des letzten Jahres, im Juni, an der eine ungewöhnlich hohe Zahl von Demonstrant:innen teilnahm (Schätzungen zufolge zwischen 120.000 und 160.000), wurde mit dem Slogan „Nach Hause, nach Europa“ gegen die Ablehnung des EU-Kandidatenstatus protestiert.

Vor zwei Wochen besuchte die Tochter des russischen Außenministers Sergei Lawrow Georgien, um an einer Hochzeit von Verwandten teilzunehmen. Dies führte zu Protesten und hatte zur Folge, dass die geplante Feier nach der Hochzeit, die in der Nähe von Tiflis stattfinden sollte, abgesagt wurde. Bei der Demonstration eskalierte die Situation zwischen der Polizei und den Aktivist:innen, und sowohl oppositionelle Politiker:innen als auch Demonstrant:innen wurden festgenommen. 

Dem Besuch von Lawrows Familie und der Demonstration gingen die Wiederaufnahme von Linienflügen zwischen Tiflis und Moskau voraus, die von der georgischen Seite genehmigt wurde. Dies wiederum führte zu Protesten. Seit 2019 galt ein Flugverbot, das Wladimir Putin verhängt hatte, nachdem ein russischer Abgeordneter das georgische Parlament besucht und Massenproteste ausgelöst hatte. 

Darüber hinaus fügte Putin hinzu, dass die Visumpflicht für georgische Bürger:innen aufgehoben wurde, sodass Georgier:innen sich nun für 90 Tage in Russland aufhalten können (ähnlich wie in EU-Ländern, wo sie bereits seit 2017 für 90 Tage visumfrei reisen dürfen). Allerdings könnten diese Entscheidungen den Erhalt des EU-Kandidatenstatus für Georgien erneut gefährden. Am 29. Mai dieses Jahres sandte die EU eine diplomatische Note an die georgische Regierung, um ihre Bedenken bezüglich der Wiederaufnahme von Flügen zwischen Georgien und Russland zum Ausdruck zu bringen. 

Der EU-Botschafter Paweł Herczyński äußerte das Bedauern der EU über die Entscheidung der georgischen Regierung, Direktflüge mit Russland zu akzeptieren, und betonte, dass dies im Widerspruch zur Position der 27 Mitgliedstaaten stehe. Dies ist nicht das erste Mal, dass EU-Länder eine Demarche gegenüber Georgien angekündigt haben. Bereits im Februar 2023 geschah dies im Zusammenhang mit dem inhaftierten dritten Präsidenten Georgiens, Micheil Saakaschwili.

Was muss getan werden?

Seit einem Jahr ist Georgien verpflichtet, zwölf Prioritäten zu erfüllen, die im Juni 2022 von der EU-Kommission empfohlen wurden. Diese Prioritäten umfassen verschiedene Änderungen und Reformen in unterschiedliche Richtungen wie Justizreform, „Deoligarchisierung“, Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Verbesserung der Medienlandschaft, Lösung des Problems der politischen Polarisierung und Berücksichtigung unabhängiger Personen bei der Ernennung eines neuen Bürgerbeauftragten (Ombudsstelle). 

Laut einem von mehreren NGOs erstellten Dokument hat Georgien von diesen zwölf Prioritäten lediglich eine vollständig und zwei teilweise erfüllt, während neun Punkte weiterhin problematisch sind. 

Der georgische Staat hat nicht mehr viel Zeit, da die Europäische Kommission im Herbst einen ordnungsgemäßen Erweiterungsbericht veröffentlichen wird. Rikard Jozwiak, Redakteur des Europäischen Büros von Radio Liberty, zufolge unterstützt die Europäische Kommission die Empfehlung, Georgien in diesem Jahr den Kandidatenstatus zu verleihen.

Der EU-Kandidatenstatus ist für Georgien wichtig

Für Georgien und die georgische Bevölkerung ist der Kandidatenstatus und der Beitritt zur EU und NATO nicht nur ein Wunsch, sondern die einzige Lösung für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger:innen. Bekanntlich sind 20% des georgischen Territoriums von Russland besetzt, was eine ernsthafte Herausforderung für die nationale Sicherheit des Staates darstellt. 

Seit dem Krieg in der Ukraine hat der Beitritt zur EU und NATO eine noch größere und bedeutendere Rolle für die Georgier:innen erhalten. Zusätzlich strebt Georgien seit seiner Unabhängigkeitserklärung deutlich eine Integration in die EU an. Diese europäische Ausrichtung ist in der Verfassung Georgiens verankert und verdeutlicht den pro-westlichen Kurs des Landes.


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