Erst das Parlament, dann die Kommission

Mit der wahrscheinlichen automatischen Ernennung des Kommissionspräsidenten dürften die Europawahlen von Mai 2014 der Exekutive in Brüssel mehr demokratische Legitimität verleihen. Doch ist das wirklich wünschenswert?

Veröffentlicht am 2 Mai 2013 um 10:40

In Brüssel sind die Vorbereitungen für die Europawahl vom nächsten Jahr in vollem Gange. Manche erwarten sich den Himmel auf Erden und schwimmen in Euphorie. Die Enthusiastischsten prophezeien für die Wahl von Mai 2014 einen wesentlichen Fortschritt in der Demokratie. Jede politische Fraktion des Europäischen Parlaments wurde gebeten, ihren Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu bestimmen – und nun wird mächtig spekuliert.

Werden die Sozialisten Martin Schulz als Kandidat einsetzen? Kann es als Provokation ausgelegt werden, einen Deutschen an die Spitze der Liste zu stellen? Kann die EVP - die konservative, christdemokratische Fraktion – wirklich den polnischen Ministerpräsident Donald Tusk nennen, der in diesem Fall sein Amt als Regierungschef aufgeben müsste?

Auch andere Fragen stellen sich: Hat der orthodoxe Föderalismus des Liberalen Guy Verhofstadt im heutigen Europa nicht eine vergrämende Wirkung? Warum gibt es so wenige Frauen unter den gehandelten Kandidaten? Und – oh nein! – will José Manuel Barroso wirklich noch einmal um fünf Jahre verlängern?!

Hoffnung auf Fortschritt

Zumindest bleibt die Hoffnung, dass der politisierte Prozess der Ernennung des nächsten Kommissionspräsidenten einen Schritt nach vorne für die Demokratie darstellt.

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Der Gedanke ist nicht neu. Einer der prominentesten Spezialisten der EU, der Brite Simon Hix, plädiert schon lange für diese partielle Entwicklung des Systems. Sein Buch What’s wrong with the European Union & how to fix it (Polity-Verlag, 2008, deutsche Übersetzung: „Was stimmt nicht an der EU und wie kann man es ändern“) wurde mehrmals neu aufgelegt.

Simon Hix vertritt eine zunehmende Politisierung der Entscheidungen innerhalb der EU. Seiner Meinung nach hält die heute geltende Kultur der Einstimmigkeit die Bürger davon ab, Antworten zu verlangen. Die Demokratie, so verheißt er, würde durch eine offene Konkurrenz zwischen einer größeren Zahl von Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten verstärkt.

Bis jetzt wurde der Kommissionspräsident hinter verschlossenen Türen bestimmt. Die Regierungschefs verhandelten untereinander und das Resultat war die Ernennung eines Kandidaten des allgemein dünnen Kompromisses. Zumal es erfrischend wäre, mit der Heimlichtuerei und den geheimen Beratungen Schluss zu machen.

Doch das derzeit laufende Experiment der europäischen Demokratie wirft eine Menge Fragen auf, die bis jetzt noch keine Antworten gefunden haben. Soll zum Beispiel Martin Schulz auch die Liste der Sozialdemokraten in Schweden anführen? Nein, denn die Mitgliedsstaaten werden bei den europäischen Parlamentswahlen zu Wahlbezirken und deshalb werden in Schweden immer schwedische Bürger kandidieren. Die Schweden werden also nicht für Martin Schulz wählen können, doch falls er der Kandidat der europäischen Sozialisten wird, wird sein Bild auch auf Schweden von den Wahlplakaten heruntersehen. Das ist irreführend.

Wer steht für welche Linie?

Und wie kann man wissen, welche Politik tatsächlich eingesetzt wird? Martin Schulz plädiert für eine deutlich föderalistischere Europapolitik als viele schwedische Sozialdemokraten, doch wie können die Wähler wissen, für welche politische Linie sie stimmen? Eindeutig ist das wirklich nicht.

Auch in rein formaler Hinsicht ist das Wahlverfahren nicht völlig klar. Laut Artikel 17 des Vertrags von Lissabon wird der Kommissionspräsident in Anbetracht der Wahlen zum Europäischen Parlament bestimmt, doch der Europäische Rat (das Gremium der Staats- und Regierungschefs) schlägt den Kandidaten vor. Umständlich.

Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Wahlen von 2014 enttäuschen werden. Die Staats- und Regierungschefs haben immer noch das letzte Wort. Und ist es im übrigen wirklich so gut, dem Kommissionspräsidenten eine demokratische Legitimität verleihen zu wollen, so als sei er ein Regierungschef?

Nicht zu viel Macht für die Kommission

Die Kommission ist eine supranationale Institution, die eine ausgedehnte Macht und zahlreiche Prärogativen besitzt. Sie allein ist dazu ermächtigt, neue europäische Gesetze vorzuschlagen, verfügt über die Entscheidungsmacht für manche von ihnen, wacht über ihre Anwendung und hat die Kompetenz, ein Gerichtsverfahren gegen Länder einzuleiten, die gegen die Regeln verstoßen.

Dieser neue Modus der Ernennung des Präsidenten könnte also nicht den erwarteten, sondern sogar den gegenteiligen Effekt haben: Die Macht könnte sich noch weiter konzentrieren, was berechtigte Erwartungen im Hinblick auf politisches Handeln wecken könnte. Doch der Einfluss der Kommission sollte besser begrenzt und nicht noch weiter verstärkt werden.

Die europäische Demokratie sollte auf nationaler Ebene verwurzelt werden, durch eine verstärkte Rolle des Europäischen Parlaments. Ja, nehmt mehr Kandidaten in das Rennen um José Manuel Barrosos Nachfolge auf und organisiert öffentliche Anhörungen. Doch tut nicht so, als ob die Kommission die Regierung der EU wäre.

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