Europa braucht frisches Blut

Die kürzlich durch Eurostat bestätigte Alterung der europäischen Bevölkerung bedeutet nicht nur, dass mehr Renten finanziert werden müssen, sondern auch, dass es weniger motivierte und kompetente junge Menschen gibt, die die Wirtschaft in Gang halten. Deshalb muss vor allem eine attraktive Umgebung für die treibenden Kräfte des Kontinents geschaffen werden, findet die italienische Wirtschaftswissenschaftlerin Irene Tinagli.

Veröffentlicht am 6 August 2010 um 15:07

Wie wird sich die Verlangsamung des demografischen Wachstums auf die Zukunft Europas auswirken? Viele Forschungszentren fragen sich das schon seit langem. Die Geburtenraten sind nach wie vor in vielen Ländern rückläufig. Mit der Krise gehen auch die Migrationsflüsse zurück und scheinen die Tendenz nicht mehr ausgleichen zu können. Die Hauptsorge, vor allem für die führenden Politiker, ist, dass eine Einheit wie Europa, das kaum eine halbe Milliarde Einwohner zählt, in Sachen globalem Einfluss den Riesen wie China oder Indien, mit ihren jeweils über einer Milliarde Einwohnern, nicht das Wasser reichen kann.

Die Bevölkerungszahlen spielen natürlich eine Rolle: Der Präsident eines Milliardenvolks hat nicht dasselbe Gewicht wie ein anderer, der nur eine kleine Anzahl von Menschen repräsentiert, insbesondere weil zahlenreiche Bevölkerungen zum Markt und zum Konsum beitragen, Investitionen anziehen usw. Doch ebenso offensichtlich können Zahlen allein keine Macht verleihen, sei sie politisch oder ökonomisch. Die demografische Struktur eines Landes – wie auch seine wirtschaftliche und soziale Struktur – wird nicht nur durch die Anzahl seiner Einwohner definiert, das Ganze ist auch eine qualitative. Davon ausgehend, ist nicht der demografische Rückgang an sich beunruhigend, sondern die progressive Alterung der Bevölkerung. Die große Macht Indiens liegt nicht nur in seinen 1,1 Milliarden Menschen, sondern in der Tatsache, dass 50 Prozent dieser Bevölkerung unter 25 Jahre und 65 Prozent unter 35 Jahre alt ist. In China beträgt das Durchschnittsalter der Bevölkerung 34 Jahre. Zum Vergleich: In Italien liegt es bei 43, in Deutschland bei 44 und in Frankreich, einem der "jüngsten" Länder Europas, bei 40 Jahren.

Junge Arbeitskräfte: billig, beflissen, mobil

Die Alterung der europäischen Bevölkerung hat nicht nur schwere Auswirkungen auf das Rentensystem und die Sozialausgaben, woran oft und zu Recht erinnert wird. Sie hat auch bedeutende Folgen auf Produktivität, Innovationskapazität und Produktion eines Landes. Doch über diese Fragen wird nicht genug nachgedacht. Tatsächlich wird hinterfragt, was mit einer zunehmend alternden Bevölkerung verbunden ist, aber viel weniger, was es wohl bedeutet, immer weniger junge Menschen zu haben. Eine jüngere Bevölkerung, das heißt vor allem eine aktive, frisch ausgebildete Arbeitskraft mit frischen, neuen Kompetenzen. Ein 25-Jähriger mit einem brandneuen Diplom kann alle neuen Technologien anwenden, während jemand um die 45 oder 50 sein Diplom im besten Fall vor 20 Jahren erhielt, wahrscheinlich indem er seine Abschlussarbeit auf der Schreibmaschine schrieb.

Ein junger Mensch unter 30 arbeitet im allgemeinen mehr Stunden, für ein Einkommen, das noch nicht durch Dienstalter und jahrelangen Karriereaufstieg angeschwollen ist. In anderen Worten, er produziert mehr, kostet weniger, bewährt sich und lernt bereitwilliger, und trägt allgemein dazu bei, dass sich das System schneller bewegt, produziert und Innovationen einführt, und das alles mit einem intensiveren Rhythmus und unterdrückten Kosten. Dies betrifft erst recht die dynamischsten Wirtschaftsbereiche, in welchen sich die "Investitionen" in Ausbildung und Arbeit am meisten auszahlen. In einem Europa, in welchem die Mittelklasse vor ein paar Jahrzehnten explodierte und sich die Familienstruktur zunehmend um Einzelkinder dreht, ist die neue Generation meist behüteter als die der jungen Chinesen oder der jungen Inder und weniger motiviert, sich in den Wettbewerb zu stürzen. Dies um so mehr, da die jungen Europäer mit einem viel langsameren Wirtschaftswachstum konfrontiert sind, welches vergleichsweise bescheidene Perspektiven auf Wiederaufschwung oder auf wirtschaftliches bzw. soziales Wachstum aufweist. Über diese Aspekte sollte sich Europa Gedanken machen.

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Macht ist nicht nur Bevölkerungsstärke

Existenz, Energie und Wachstumsmöglichkeiten der neuen Generationen machen den wahren Unterschied eines Landes aus, wenn es um seine Zukunft und seinen internationalen Einfluss geht. Junge Menschen tragen ganz entscheidend nicht nur zu technologischen Innovationen, sondern auch zu einer größeren kulturellen Dynamik und zu großen globalen Tendenzen bei. Im Übrigen werden auch in der Kunst, in der Wissenschaft und sogar in der Massenkultur die neuen Grenzen öfter von jungen rebellischen Künstlern, von jungen Studienabsolventen und allgemein von den neuen, sich behaupten wollenden Generationen ausgelotet als von 50- und 60-Jährigen mit ausgedehnter Erfahrung.

Die demografische Struktur in Europa ist zweifelsohne ein Problem, das dringend untersucht werden muss. Doch bevor man sich überlegt, wie die Anzahl der europäischen Bürger erhöht werden kann – in der etwas naiven Hoffnung, man könne mit Erhöhung des demografischen Gewichts auch das globale politische Gewicht erhalten –, sollte sich Europa auf die Entstehung eines flüssigeren, dynamischeren und für junge Menschen aus aller Welt attraktiveren wirtschaftlichen und sozialen Kontexts konzentrieren: weniger Bürokratie, weniger Vermögensvoraussetzungen und vor allem mehr Ansporn zu produktiven Tätigkeiten, Innovation und Unternehmensgründung. Kurz, es sollte versuchen, aus dem Alten Kontinent ein Land für die Jungen zu machen, das sozialen und kulturellen Einfluss generiert, welcher wiederum die notwendige Voraussetzung für einen echten globalen Einfluss ist. (pl-m)

In Zahlen

Starke Ungleichheiten unter den Ländern

Anhand der Zahlen, die Ende Juli von Eurostat veröffentlicht wurden, ziehtLe Monde eine kontrastierte Bilanz der Situation innerhalb der EU. Die Gesamtbevölkerung hat gerade einen neuen Meilenstein überschritten: 501 Millionen Einwohner für 2010, d.h. 1,4 Millionen mehr als letztes Jahr. Doch manche Länder (Litauen, Lettland, Bulgarien) büßten rund sechs Prozent ihrer Einwohner ein, während andere (Großbritannien, Schweden, Belgien) mehr als sieben Prozent dazugewannen. Die Ungleichheiten resultieren vor allem aus der Geburtenrate, die in Nord- und Westeuropa (Irland, Großbritannien, Frankreich) sehr hoch und im Süden und Osten (Deutschland, Bulgarien, Ungarn) sehr niedrig ist. Die durchschnittliche Fruchtbarkeitsrate in der EU betrug im Jahr 2008 knappe 1,6 Kinder pro Frau.

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