Spannungen. EUMM-Beobachter an der Grenze zwischen Georgien und Südossetien, Juli 2009. (AFP)

Europa im Kreuzfeuer

Ein Jahr nach dem Blitzkrieg zwischen Georgien und Russland kriselt es zwischen den beiden Ländern erneut. Sie werfen sich gegenseitig vor, den Waffenstillstand beenden zu wollen. Die Europäische Union, die damit beauftragt ist, die Waffenruhe und die Eihaltung der Friedensabkommen zu überwachen, muss sich nun fragen, welche Rolle sie spielen wird, wenn der Konflikt wiederholt eskalieren sollte.

Veröffentlicht am 6 August 2009 um 15:17
Spannungen. EUMM-Beobachter an der Grenze zwischen Georgien und Südossetien, Juli 2009. (AFP)

Vor Ort ist die Lage "sehr angespannt, auch wenn es irgendwie etwas Surrealistisches hat", schreibt Il Sole 24 Ore aus Mailand, für die "es eigentlich nichts Neues in dieser sowieso alles andere als normalen Situation gibt, die sich vor einem Jahr in den fünf Tage andauernden Konfrontationen herauskristallisiert hat. Südossetien und Abchasien befinden sich in den Händen Moskaus, obwohl (fast) alle der Meinung sind, sie gehören noch immer zu Georgien. 3.700 russische Soldaten überwachen die Grenzen. Die Beobachter der Überwachungsmission der Europäischen Union (European Monitoring Mission in Georgia, EUMM) achten darauf, dass der Waffenstillstand eingehalten wird. Der georgische Präsident Micheil Saakaschwili hält die Stellung, auch wenn der Krieg, die Wirtschaftskrise und die Proteste der Opposition ihn ernsthaft geschwächt haben".

Die Union hat keine geschlossene Reaktion vorbereitet

Zudem hat der Krieg "Russland in seiner– furchterregenden – Hauptrolle auf der internationalen Bühne bestätigt", beschreibt der Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, Fiodor Lukianov, die Lage in einem Interview mit der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Hinzukommt, fährt er fort, dass "der Krieg den Erweiterungsprozess der NATO aufgehalten hat, denn schließlich hat er bewiesen, dass das Risiko besteht, dass einer seiner Mitgliedsstaaten in einen bewaffneten Konflikt verwickelt wird". In der Tat hallen diese Worte auch im Le Monde-Interview mit Thomas Gomart, dem Leiter des Zentrums Russland-Neue unabhängige Staaten (Centre Russie-NEI, für "Nouveaux Etats indépendants") des Französischen Instituts für Internationale Beziehungen (l'Institut français des relations internationales, IFRI), wie ein Echo nach: "Washington ist mittlerweile der Meinung, dass man den Beitritt Georgiens und der Ukraine zur NATO nicht überstürzen sollte, um zu vermeiden, dass es in dieser Region nur noch mehr zu Unruhen kommt", obwohl das von der Wirtschaftskrise erfasste „Russland seit dem Ende des Krieges seinen Einfluss zunehmend verloren hat“. "Am Wenigsten hat sich letztendlich die Haltung der Europäer verändert, obwohl gerade sie es sind, die dieser Konflikt direkt betrifft", unterstreicht Thomas Gomart. Seitdem verschiedene Delegationen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Vereinten Nationen (UNO) auf Drängen Moskaus zurückgeschickt wurden, sind die Beobachter der Europäischen Union nunmehr die Einzigen vor Ort. Jedoch hat sich die Union, wenn sie demnächst von den Russen oder den Georgiern angepöbelt werden sollte, oder der Konflikt erneut eskaliert, "keineswegs auf eine eventuelle geschlossene Reaktion geeinigt".

Während sich die EU seit etwa einem Jahr um die Verbesserung der diplomatischen Beziehungen bemüht, liefern sich, wie es Il Sole 24 Ore nennt, Moskau und Tiflis "ein Wettrennen, um der Welt erneut klarzumachen", warum Präsident Saakaschwili "versucht hat, sich die Kontrolle" Südossetiens wiederzuholen, und aus welchen Gründen der "Kremlin ihn daran entschieden hindern wollte". El País meint hingegen, dass die beiden ehemaligen Streithähne vielmehr damit beschäftigt sind, die unabhängige internationale Untersuchungskommission zum Georgien-Konflikt von ihren Standpunkten und dem Recht, auf diesen zu bestehen, zu überzeugen. Angeführt wird diese, unter der Schirmherrschaft der EU stehende Kommission, von der schweizerischen Diplomatin Heidi Tagliavini. Ende September wird die Kommission ihren Bericht über die Ursprünge und den Verlauf des Konfliktes einreichen, aber der Tagesspiegel ist der Meinung, dass schon jetzt klar sei, dass dieser nur eines bestätigen wird: Georgien könne nicht bestreiten, zum Ausbruch des Krieges beigetragen zu haben. Die Berliner Tageszeitung meint aber auch, dass die EU anerkennen muss, dass das Georgien das Völkerrecht nicht verletzt hat. Dennoch meint der Tagesspiegel, dass Georgien von einer Demokratie nach westlichem Verständnis noch weit entfernt ist. Experten sind sich einig, "dass Georgien nur in einer Hinwendung nach Europa eine Chance auf Demokratisierung hat".

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Droht ein neuer Konflikt?

Unterdessen benehmen sich die beiden Parteien "als ob sie das gleiche Szenario wieder spielen wollen, welches, genau wie vor einem Jahr, unweigerlich wieder zu einem Krieg führen könnte", schätzt Il Sole 24 Ore die Lage ein. "Am 4. August beschuldigten die Russen die Georgier, Granaten auf die südossetische Hauptstadt Tskhinvali geworfen zu haben, erhöhten ihre Alarmstufe und bereiteten 'vorsorgliche' militärische Operationen vor. Unter dem Vorwand, Provokationen zu vermeiden, und um sich vor der sich ausbreitenden Schweinegrippe zu schützen, hat Tskhinvali das letzte noch offene Grenzstück zu Georgien geschlossen. Tiflis weist den Vorwurf, die Waffenruhe gebrochen zu haben, entschieden zurück, schließt Angriffspläne aus und beschuldigt Moskau, die Grenzen verschieben zu wollen, auch wenn die europäischen Beobachter dies nicht beweisen können." Trotz der erhöhten Spannungen sind die Beobachter der drohenden Wiederaufnahme der Feindlichkeiten gegenüber geteilter Meinung. In der Pariser Tageszeitung Le Figaro schätzt der der russische Experte für geostrategische Fragen, Alexander Golts, die Lage wie folgt ein: „Russland hat keinerlei Gründe dafür, einen Konflikt heraufzubeschwören“, da es sein Ziel ja schon erreicht hat. Es ging ihm darum, dem Westen seine Hegemonialansprüche im Kaukasus klarzumachen. Ein anderer russischer Militärexperte, Pavel Felgenhauer, ist vom Gegenteil überzeugt: "Russland bereitet sich auf einen neuen Krieg gegen Georgien vor“, dessen Ziel es diesmal sein wird, das Regime von Micheil Saakaschwili unverblümt "zu stürzen".

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