Nachrichten Detroit und seine Folgen

Europa in der Angststarre

Weil sich Europa weigert, seine scheiternden Institutionen abzusägen, kann sich seine Wirtschaft nicht erholen. Der Kontinent sollte lieber dem amerikanischen Beispiel folgen und seine hoffnungslosen Fälle in ihren Bankrott laufen lassen, meint die Financial Times.

Veröffentlicht am 1 August 2013 um 14:51

Die Insolvenz der einstmals großen Stadt Detroit folgt nur ein paar Jahre auf die von General Motors, dem hier ansässigen legendären Automobilhersteller. In beiden Zusammenbrüchen kommen jahrzehntelang angehäufte Misserfolge zum Ausdruck – einer davon besteht darin, der Realität nicht schon früher ins Auge gesehen zu haben.

Doch sie stehen auch für einen großen Vorteil der USA im Vergleich zu Europa: nämlich die größere Bereitschaft, an hoffnungslosen Angelegenheiten nicht festzuhalten. Dadurch entsteht mehr Raum, in welchem sich erfolgreichere Vorhaben entfalten können. Dass man dazu fähig ist, zum Scheitern verurteilte Unternehmen untergehen zu lassen, ist ein Zeichen für Stärke, nicht für Schwäche. Wollen Europa und die Eurozone die Krise überwinden, so sollten sie mit wohlmeinender Härte im amerikanischen Stil vorgehen.

[[Es ist durchaus normal, aus der Fassung zu geraten, wenn ein Riese zusammenbricht.]] Die Verbindlichkeiten, die GM umstrukturieren musste, beliefen sich auf 172 Milliarden US-Dollar (130 Mrd. EUR). Auf die Stadt kommen Schulden in Höhe von möglicherweise 20 Milliarden USD zu, so Detroits Notverwalter Kevyn Orr. Ein großer Teil davon entfällt auf die Verluste von Menschen, die sich sicher waren, dass ihre Ansprüche erfüllt werden würden. Das ist natürlich unfair und man kann es den geschädigten Gläubigern nicht verübeln, dass sie mit allen nur möglichen Mitteln versuchen, die Angelegenheit durch andere bereinigen zu lassen, wie es die Gewerkschaften in Detroit nun von der amerikanischen Bundesregierung verlangen.

Insolvenz als Chance

Im Großen und Ganzen jedoch sind die USA bereit, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen – zumindest mehr als in Europa. Das war allerdings nicht immer so. Präsident Gerald Fords berühmt-berüchtigte Bemerkung an die Stadt New York im Jahr 1975 („Drop dead“ – dt. etwa: Rutscht mir den Buckel hinunter – eine Äußerung, die er nie wirklich getan haben soll) endete letztendlich doch mit einem Rettungskredit. Doch in den letzten Jahren verwiesen die USA etliche Banken (Lehman Brothers und viele kleinere), andere systemrelevante Unternehmen (aus der Automobilindustrie) und viele Stadtverwaltungen kurzerhand an das nächste Insolvenzgericht.

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Amerika kombiniert die harte Tour mit Wohlwollen: [[In den USA ist es nicht das Ende der Welt, wenn man Risiken eingeht und dann scheitert.]] Es besteht Würde darin, sich wieder aufzurappeln. Die Insolvenz bietet eine neue Chance, und das Weiterkämpfen ist die kulturell bevorzugte Reaktion darauf. Die amerikanische Wirtschaftsdynamik verdankt dieser nachsichtigen Einstellung gegenüber der Risikobereitschaft sehr viel.

In Europa ist der moralische Anstrich einer Insolvenz sehr viel düsterer. Wer bankrott geht, gilt traditionsgemäß als nicht vertrauenswürdig – gebrandmarkt durch eine Schande, die dadurch verborgen werden muss, dass man sich für immer aus dem Geschäft zurückzieht. Früher musste man sogar sein Leben aufgeben. Das zeigt sich heute noch in so überholten Regelungen wie der zwölfjährigen Laufzeit für Insolvenzverfahren in Irland (die nun endlich reformiert werden soll).

Diese kulturelle Allergie auf geschäftliche Misserfolge führt nicht nur zu einer geringeren Risikobereitschaft, sondern paradoxerweise auch zu politischen Strategien, bei welchen man jene, die große Risiken eingehen und scheitern, aus der Patsche holt. Europa findet die Vorstellung eines Zahlungsausfalls so unerträglich, dass es die Schulden der Pleitemacher in der derzeitigen Krise lieber gedeckt hat. Und nun darunter leidet.

Alles, bloß kein Bail-out

Deutlich war das im Fall Griechenland: Die Gläubigerstaaten wollten von einem Bail-out nichts wissen. Doch der Gedanke, dass ein souveräner europäischer Staat seine Schulden nicht zahlen könnte, erwies sich als noch weniger akzeptabel. So wurden von der Eurozone – und vom zur Beteiligung genötigten Internationalen Währungsfonds – Kredite ausgegeben, um den Abrechnungstag hinauszuzögern.

Dasselbe geschah mit den Banken. 2010 tat die irische Regierung alles, was sie konnte, um die Löcher in den Bilanzen ihrer Banken mit Steuergeldern zu stopfen, anstatt sie für insolvent zu erklären, die privaten Einleger zu schützen und die Scherben von den Gläubigern aufsammeln zu lassen. Als es Dublin bewusst wurde, dass seine Steuergelder dazu nicht ausreichten, wurde es von seinen Partner in der Eurozone unter Druck gesetzt, bis es bei ihnen Kredite aufnahm und mit der Rettung fortfuhr. Auch in Spanien und in anderen Ländern verstümmelte die Abscheu vor der Insolvenz die Politik gegenüber den Banken.

Die Realität zwang die Europäer schließlich, ihre Meinung zu ändern – so wie das eben gewöhnlich der Fall ist. Griechenlands Staatsschulden wurden letztendlich umstrukturiert – doch nicht, bevor es zu spät für die größten Vorteile des Schuldenschnitts war, und auch nicht ohne die Vortäuschung, die Anleiheninhaber könnten sich freiwillig dafür entscheiden. In Zypern ging es zwar um niedrige Beträge, doch die Aussicht, russische Anleger zu retten, war für Nordeuropa dann doch zu viel.

Schulden in Eigenkaptial verwandeln

Sogar diese Lektionen dringen nur langsam ins Bewusstsein ein. Die USA ermächtigten sich 2010 dazu, die großen Banken auslaufen zu lassen und ihre Verluste den Gläubigern aufzubürden. Die meisten EU-Regierungen sind in ihrer Gesetzgebung heute immer noch nicht so weit. Es wird Jahre dauern, bis sie von Brüssel dazu gezwungen werden, obwohl sich im Prinzip alle über die Notwendigkeit eines „Bail-in“ einig sind.

Wie viel die Eurozone hätte sparen können, wenn sie die Umschuldung von Anfang der Krise an als pragmatische Strategie aufgegriffen hätte, ist unbekannt. Doch das jahrelange Ausbleiben des Wirtschaftswachstums – im Vergleich zu den USA, die zwar langsam, aber doch sicher aus der Krise hinaustrotten – ist zum Teil auf Europas restlichen Schuldenüberhang zurückzuführen. Da die Verschuldung in der amerikanischen Wirtschaft stark zurückgegangen ist, geben die Haushalte wieder mehr aus. Europa wird gebremst von Banken, die auf allzu dünnen Kapitalpuffern schwanken – das passiert, wenn man sich weigert, Schulden in Eigenkapital zu verwandeln, falls andere Kapitalquellen versiegen.

Europa braucht den zweiten Akt

Europa kann kontern, dass am schlimmsten Bankrott von allen – dem von Lehman – ja ersichtlich ist, wie viel Schaden die Loslösungsbereitschaft der USA angerichtet hat. Eine berechtigte Anmerkung. Doch Amerikaner und Europäer haben auch daraus verschiedene Lehren gezogen. Die USA arbeiten daran, der Systemrelevanz bestimmter Unternehmen („too big to fail“ – zu groß, um zu versagen) ein Ende zu setzen – wenn der Weg bis dahin auch noch lang ist. Bis Zypern verhielt sich Europa genau umgekehrt und behandelte sogar die kleinsten Banken so, als würde ihr Konkurs ebenso verheerende Folgen haben wie der von Lehman.

F. Scott Fitzgerald schrieb: [[„Ich dachte früher, im amerikanischen Leben gibt es keinen zweiten Akt. Doch für New Yorks Hochkonjunktur gab es ganz gewiss einen.“]] Fitzgerald meinte damit den Crash von 1929, der die Goldenen Zwanziger zum Stillstand brachte. Europa muss aus dem, was Amerika viele Male gezeigt hat, eine Lehre ziehen: Es muss den zweiten Akt geschehen lassen – und dann kann zu gegebener Zeit ein dritter folgen, wie bei GM und sicher auch bei Detroit.

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