Europa ist noch nicht weg vom Fenster

Wirtschaftliche Macht ist nicht das alleinige Maß für globale Macht. Belangreich ist vor allem, wie die politischen Systeme auf Herausforderungen reagieren, die sie so noch nie erlebt haben, wie beispielsweise die aktuelle Eurokrise. Und so gesehen macht sich die EU insgesamt gar nicht so schlecht, findet Dirk-Jan van Baar.

Veröffentlicht am 5 Dezember 2011 um 14:19

Das Jahr 2011 hat alles, um als das Katastrophenjahr in die Geschichte einzugehen, in dem Amerika und Europa unter den eigenen Schulden zu ersticken drohten. Sie stehen nun als Sorgenkinder der Weltwirtschaft da und bekommen Lektionen erteilt von Staatskapitalisten aus China, Diplomaten aus Singapur oder Ökonomen aus Indien. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Beobachter das Gefühl haben, vier Jahrhunderte westlicher Dominanz neigten sich dem Ende entgegen, und die Sonne steige im Fernen Osten auf.

Der amerikanische Präsident verhält sich entsprechend: Amerika muss erst einmal seine eigene Wirtschaft in Ordnung bringen, bevor man an neue Auslandseinsätze denken könne. Dabei wirkt Obama wie einer, der schon immer gedacht hätte, dass die Kriege in Afghanistan und im Irak nicht zu gewinnen seien. Wenn selbst der mächtigste Mann der Welt meint, dass Washington sich übernommen hat, dann kann man sich dem Historiker Paul Kennedy (schon 1987 in “Aufstieg und Fall der großen Mächte”) anschließen: Amerika leidet unter “imperialer Überdehnung”.

Was ist schlimm an Chinas Aufstieg?

Jedoch machte Kennedy seine Prophezeiung kurz vor Ende des Kalten Krieges. Er war nicht nur blind für die weltweite Ausbreitung der Demokratie, sondern er verpasste auch den Untergang des Sowjetkommunismus, der vor seinen Augen stattfand. Man sollte denken, dass so ein Mann vorsichtiger werden sollte. Aber nein, auch jetzt sieht er wieder eine historische Zäsur: Der Westen verliert schleichend seine Dominanz.

Kennedy ist ein Historiker, für den wirtschaftliche Faktoren an erster Stelle stehen. Die Ideen “großer Staatsmänner” haben für ihn weniger Macht. China hat keinen Vorsprung, wie immer behauptet, ist aber dabei seinen Rückstand aufzuholen. Ich habe nie verstanden, warum das Wachstum von China und Indien, die beide endlich Anschluss an die Weltwirtschaft gefunden haben, nachteilig für den Westen sein soll. Wäre es nicht viel beunruhigender, wenn man in China immer noch mit Karren in die Berge gehen würde und in Indien — dem größten Automarkt der Welt — weiterhin heilige Kühe Vorfahrt hätten?

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Entschlossenheit spielt eine Rolle

Dass Europa nicht mehr so übermächtig ist wie zur Blütezeit des Kolonialismus vor hundert Jahren, ist offensichtlich. Dass nicht mehr jeder amerikanische Arbeiter ein Haus mit Pool besitzt wie zur Blütezeit von General Motors ist auch bekannt. Aber das sind auch nicht die richtigen Messlatten, um den Niedergang von Macht zu messen. Viel belangreicher ist es zu sehen, wie die politischen Systeme auf Krisen und Herausforderungen reagieren, die sie so noch nie mitgemacht haben.

Hätte die Sowjetführung nicht beschlossen, das Handtuch zu werfen, würde die Berliner Mauer vielleicht noch bestehen. Hätten sich Ronald Reagan und Margaret Thatcher nicht in den frühen Achtzigerjahren gegen den zunehmenden Einfluss der Sowjetunion gestemmt, hätte der Kreml sicherlich an seiner eigenen Machtpolitik festgehalten. Warum die politischen Reformer in der Sowjetunion nachgaben, die wirtschaftlichen Reformer in China aber nicht, wird ein Thema für historische Spekulation bleiben. Es zeigt jedoch, dass nicht messbare Größen wie Entschlossenheit und der Glauben an die eigene Sache hier eine Rolle spielen.

Ungewollt europäische Solidarität

Wenn es um Experimente und Neuerungen geht, ist es nach zu früh, um Europa abzuschreiben. Mit der Einführung des Euro und der Erweiterung der EU nach Osteuropa hat der Kontinent im vergangenen Jahrzehnt grenzüberschreitende Veränderungen geleistet. Und es ist ganz logisch, dass solch eine bedeutende Entwicklung ins Stocken gerät und auf den Prüfstand gestellt wird. Und es ist und bleibt eine Leistung, dass der Euro nach Plan eingeführt wurde und dass die Eurozone, trotz eines komplexen Schuldenproblems, welches nur wenige in derartigem Ausmaß voraussagten, nicht sofort zerbrach.

Dies deutet darauf hin, dass Europa politisch viel mehr vermag, als ihm in der Regel nachgesagt wird. Ich denke, dass mit all ihren finanziellen Verflechtungen die heutige Eurokrise für eine (ungewollte) europäische Solidarität sorgt, so wie wir sie noch nie gesehen haben und die sich nicht rückgängig machen lässt.

Erst, wenn die Politik durch den Schlamm geht

Die europäischen Politiker wie Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, sowie die Europäische Zentralbank betreten unberührten Boden und müssen improvisieren. Sie beweisen dabei Tag für Tag eine beeindruckende Lernfähigkeit. Dass die Medien das anders wahrnehmen, kommt daher, dass bei ihnen Scorings den Ton angeben, bei denen führende Politiker routinemäßig abgefackelt werden. Ich glaube, man kann Politiker erst dann beurteilen, wenn sie durch den Schlamm gehen müssen — so wie jetzt.

Natürlich gehen viele Dinge schief und die atlantische Zusammenarbeit hat auch schon bessere Zeiten gekannt. Doch Fernost kann von solchen Friedensmechanismen nur träumen. Und in Asien, das von allerlei Katastrophen heimgesucht wird und sich auf dem Gebiet der stabilen Selbstverwaltung noch beweisen muss, liegt in der Tat die Zukunft. Der Kontinent entwickelt sich in einer globalen Wirtschaft, geprägt von westlichen Ideen. Ich müsste ein riesiger Defätist sein, um dann noch vom Niedergang des Westens zu sprechen.

Aus dem Holländischen von Jörg Stickan.

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