Nachrichten Der Blick aus Peking
Figur aus dem chinesischen Marionettentheater. Foto AssassinChen/Flickr

Europa, na und?

Gespalten, verkalkt, ausgegrenzt: Für die chinesischen Eliten ist die Europäische Union als Macht nicht würdig, die derzeitige globale Neuorganisation anzupacken. Sie führen dies auf die wirtschaftliche und soziale Leichtfertigkeit der 27 zurück, erklärt der belgische Sinologe Jonathan Holslag.

Veröffentlicht am 19 Oktober 2009 um 14:25
Figur aus dem chinesischen Marionettentheater. Foto AssassinChen/Flickr

Während das Flugzeug der chinesischen Regierung langsam auf die Wolkenfelder über Brüssel hinabsank, fragte sich der chinesischen Vizepräsident Xi Jinping wahrscheinlich, warum er eigentlich seine Zeit mit diesem Besuch verschwendete: kein Erdöl, keine Erzvorkommen, keine strategische Konsultation über wirtschaftliche Stabilität, keine Partner, mit denen man heikle Fragen besprechen könnte, wie mit dem Iran oder mit Nordkorea, noch nicht einmal ein kleiner europäischer Gipfel. Was war also das Ziel dieser Reise? Der Besuch eines Museums! Außerdem wollten die Belgier angeblich Diamantenhandel betreiben und einen Hafen haben sie wohl auch, muss er sich gedacht haben. Welchen Namen muss ich mir merken? Herman Van Rompuy, der belgische Präsident [in Wirklichkeit der Ministerpräsident des belgischen Königreichs]? Und das hier ist wohl der nationale Flughafen? Ein guter chinesischer Bauunternehmer könnte vielleicht etwas daraus machen...

Keine gemeinsame Linie mit China

Vor über einem Jahrhundert zeigten die Chinesen noch große Ehrfurcht vor den belgischen Investoren, die auf ihre Bodenschätze lauerten oder mit Infrastrukturaufträgen große Gewinne machen wollten. Heute geben sie sich nicht einmal mehr die Mühe, Europa bezüglich so wichtiger Themen wie Kernwaffenverbreitung, Stabilität in Afrika oder die Reform der internationalen Institutionen überhaupt zu konsultieren. Es gibt mehrere offizielle Instanzen zum Dialog zwischen Europa und China, doch es fehlt ihnen an Substanz und konkret führen diese Dialoge nicht zum Konsens. Und zwar nicht etwa weil die Volksrepublik strategische Partnerschaften nicht schätzt, sondern weil Europa selbst unfähig ist, eine bedeutende Rolle zu spielen.Also hat man sich in Brüssel gedacht, es sei wohl besser, auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu setzen. Die Europäische Union ist der wichtigste Absatzmarkt für chinesische Exporte und die Hauptquelle für technologisches Know-how. Doch auch hier gelingt es Europa nicht, politisch so ins Gewicht zu fallen, dass es im Verhältnis zu seinem wirtschaftlichen Einfluss stünde. Die Kommission ist zwar zuständig für den Warenhandel, doch die 27 weigern sich, eine gemeinsame Richtung einzuschlagen, um Verträge über eine globale wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China abzuschließen. Die EU-Staaten erhalten in Sachen Forschung und Investitionen lieber ihre exklusiven Kompetenzen aufrecht, wodurch Beijing sie seinen eigenen Interessen entsprechend gegeneinander ausspielen kann.

Chinesische Experten und Funktionäre beschweren sich, die EU sei unfähig, die Wirtschaftskrise anzugehen und in Innovation zu investieren. Die Wissensgesellschaft stagniert, denn die kurzsichtigen politischen Entscheidungsträger privilegieren eine kurzfristige Beschäftigungsgarantie. Mangels wesentlicher Wirtschaftsreformen sind die Chinesen immer mehr der Meinung, Europa werde auf Dauer keine andere Wahl haben, als seinen Markt vor der internationalen Konkurrenz zu schützen. Wahrscheinlich glauben Sie, dass Europa immerhin in Sachen Sozialpolitik und nachhaltiger Entwicklung mit gutem Beispiel vorangeht. Eine laufende Untersuchung der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS) zeigt, dass Europa den chinesischen politischen Entscheidungsträgern auch in diesen Belangen immer weniger als Maßstab dient. Ein Grund hierfür ist die Tatsache, dass immer mehr Chinesen Europa bereisen und die Ideale mit der Realität vergleichen. Vielen von ihnen ist die europäische Kritik an der chinesische Tibetpolitik durchaus bewusst und sie sind bestürzt über die ethnische Segregation und den urbanen Verfall, die sie in Europa sehen.

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Für China ist Europa ein Museum

Die Experten fragen sich auch, ob das europäische Sozialmodell überhaupt lebensfähig ist, wenn das Wirtschaftssystem weiterhin Fehlschüsse verzeichnet. Ding Chun, ein renommierter Professor in Shanghai, bemerkte vor kurzem, die Kultur der sozialen Sicherheit hemme die soziale Mobilität, die wiederum für die Durchführung von Reformen notwendig sei. Zudem mache diese Kultur des sozialen Schutzes die Europäer blind dafür, dass die Quellen dieses Reichtums nach und nach versiegen. Für die Chinesen hat Europa nicht nur schöne Museen, es ist dabei, selbst ein Museum zu werden. Europa scheint ausgegrenzt worden zu sein, noch bevor die Machtspiele um die Organisation der neuen Weltordnung überhaupt begonnen haben. Das soll nicht heißen, dass die neuen Mächte wie China nicht mit internen Problemen zu kämpfen haben. Die Gründe für den wirtschaftlichen Erfolg Chinas sind nicht sehr verlässlich und die politische Modernisierung des Landes geht auch nicht voran. Gerade diese Unsicherheiten werden die Großmächte dazu zwingen, ihre Interessen energisch zu verteidigen, und müssten Europa dazu animieren, sich anzustrengen.

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