Analyse Europäisches Migrations- und Asylpaket | 3

Minderjährige Migranten: Das Wohl des Kindes ist „Ein Konzept, das hier und da angebracht wird, ohne wirkliche Garantien“

Der dritte Teil unserer Serie über das Migrations- und Asylpaket der EU befasst sich mit dem Thema minderjährige Migranten. Trotz der wenigen Maßnahmen und vielen Empfehlungen zu ihren Gunsten, verschlechtert sich ihre Lage in der EU zunehmend.

Veröffentlicht am 14 Dezember 2020 um 17:24

Bei der Ausarbeitung des Migrations- und Asylpakets stand die Europäische Kommission wieder einmal vor einem Rätsel: Wie lässt sich der Wunsch nach einer Reduzierung der irregulären Einwanderung mit der rechtlichen Verpflichtung zum Schutz von Minderjährigen vereinbaren? Ein erster Schritt war, das Paket mit Verweisen auf das „Kindeswohl“ zu versehen. Mit dem Risiko, so Elisabeth Schmidt-Hieber, Kommunikationsbeauftragte von SOS-Kinderdorf, „dass dieser Begriff hier und da ohne echte Garantien platziert wird“.

Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention, kurz KRK) definiert ein Kind als „jedes menschliche Wesen unter 18 Jahren“. Diese Definition wurde von der Kommission in ihrer Mitteilung zum Schutz von Migrantenkindern im Jahr 2017 aufgegriffen. Dennoch legt das Paket nun fest, dass bloß Familien mit Kindern unter 12 Jahren von dem neuen beschleunigten Asylverfahren an der Grenze befreit werden sollen.

Dies ist eine „problematische“ Unterscheidung, findet Elisabeth Schmidt-Hieber, die daran erinnert, dass die Richtlinie zur Familienzusammenführung von 2003 auch eine unterschiedliche Behandlung je nach Alter des Minderjährigen vorsah: „Ein Mitgliedstaat kann bei einem Kind über 12 Jahre, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt, prüfen, ob es ein [...] Integrationskriterium erfüllt, bevor er ihm die Einreise und den Aufenthalt gestattet.“ Auf welcher Grundlage unterscheidet die Kommission zwischen Kindern unter und über 12 Jahren?

Ein im Zusammenhang mit diesem Artikel kontaktierter Sprecher der Kommission weist darauf hin, dass die Verfahrensrichtlinie von 2013, die den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gibt, Verfahren an der Grenze anzuwenden, „keine ausdrückliche Ausnahme für begleitete Minderjährige“ vorsieht. Die im Paket vorgesehene Ausnahmeregelung sollte daher als ein Schritt nach vorn gesehen werden, der „ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Schwächsten und der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung eines wirksamen Grenzverfahrens mit einem ausreichend breiten Anwendungsbereich gewährleistet“. Mit anderen Worten: Da eine Befreiung aller Familien mit minderjährigen Kindern den Anwendungsbereich des (nun verpflichtenden) Verfahrens einschränken würde, wurde die Kindheit in zwei Unterkategorien aufgeteilt, wobei die Schwelle im Alter von 12 Jahren gezogen wurde, und zwar nach einem nicht näher erläuterten Kriterium.

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Problematisch ist auch der Begriff des Kindeswohls. Die KRK bietet keine genaue Definition, aber der Begriff wird allgemein mit dem „Schutz des körperlichen und geistigen Wohls eines Kindes und seiner Entwicklung“ in Verbindung gebracht. Nach Ansicht der Kommission wäre es z. B. im Interesse von Kindern über 6 Jahren, wenn sie - notfalls unter Zwang - in der biometrischen Datenbank Eurodac registriert würden. Dies würde dazu beitragen, sie vor Menschenhandel zu schützen, sie zu finden, wenn sie vermisst werden, und ihre familiären Verbindungen zu identifizieren.

Dieser als unverhältnismäßiger und unnötiger Eingriff in die Grundrechte des Kindes kritisierte Punkt der vorgeschlagenen Änderung der Eurodac-Verordnung von 2016 findet sich in der neuen Fassung unverändert im Paket wieder. Inhaftierungen und erzwungene Rückführungen sind weitere Beispiele für die legale Anwendung von Zwang, die im Paket und in den Rückführungs- und Aufnahmerichtlinien, die noch verhandelt werden, vorgesehen sind.

Während dieses Arsenal in Brüssel ausgebaut wird, nimmt im Rest der EU die Gewalt gegen Migrantenkinder mit Komplizenschaft der Behörden zu, insbesondere an den Grenzen. Nach dem EU-Türkei-Abkommen von 2017 sitzen tausende Minderjährige in der Hölle der „Aufnahmelager“ in Griechenland fest. Illegale Zurückweisungen an den Grenzen - zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina, Österreich und Slowenien, Griechenland und der Türkei - nehmen stetig zu. Bis zum 28. Oktober trennten die kanarischen Behörden Familien bei der Ankunft auf dem Archipel. Sie mussten auf einen DNA-Test warteten, um die Verwandtschaftsverhältnisse zu beweisen.

Jede offizielle Verbindung endet am achtzehnten Geburtstag. Doch wie könnten wir ihr Schicksal ignorieren? Vor allem, wenn die Schritte, die eingeleitet wurden, um sich legal in der EU aufzuhalten, nicht erfolgreich waren?

Allerdings ist es vor allem das Schicksal der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen (umF für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge), der die Grenzen des Engagements der EU für das „Wohl der Kinder“ deutlich macht. Abgesehen von der Befreiung des beschleunigten Asylverfahrens an der Grenze, sieht das Paket nur sehr unverbindliche Maßnahmen vor.

Seit 2003 haben diese Minderjährigen das Recht auf einen Vertreter, und zwar sobald sie auf europäischem Territorium ankommen. In der Praxis sind die Anwesenheit dieser Vertreter (oft Freiwillige), ihre Rolle und ihre Befugnisse von einem Mitgliedstaat zum anderen sehr unterschiedlich. Das Paket schlägt vor, die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zu erhöhen und das 2018 ins Leben gerufene Europäische Vormundschaftsnetzwerk zu stärken. Es bleibt abzuwarten, welche Ressourcen tatsächlich in diesen Bereich investiert werden, und von welchen Mitgliedstaaten.

Belgien hat bereits im Jahr 2002 einen Vormundschaftsdienst eingerichtet. „Ich kann bis zu 25 Minderjährige pro Jahr betreuen, aber mein Maximum lag bei 17“, erklärt Ann, die seit 2016 Vormund ist. „Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses erfordert absolute Verfügbarkeit.“ Ann, die als freie Mitarbeiterin bezahlt wird, begleitet die Minderjährigen in ihren Verfahren und bei der Kontrolle ihrer Unterbringung, ihrer schulischen Ausbildung und ihrer Gesundheit, und dies „unabhängig von jeder Institution“. Wenn ein Minderjähriger keine Schritte unternehmen möchte, „respektieren wir seinen Wunsch“, erklärt sie. Wenn dies in den Augen des Vormundes gegen die Interessen des Jugendlichen verstößt, „sind wir da, um zu diskutieren und zu versuchen, ihn oder sie zu überzeugen“. Kann eine Rückkehr in das Herkunftsland im Interesse eines umF sein? „Ich habe noch nie von einem jungen Menschen gehört, der vom Vormundschaftsdienst betreut wurde und eine freiwillige Rückkehr akzeptiert hat“, meint sie.

Jede offizielle Verbindung endet am achtzehnten Geburtstag. Doch wie könnten wir ihr Schicksal ignorieren? Vor allem, wenn die Schritte, die eingeleitet wurden, um sich legal in der EU aufzuhalten, nicht erfolgreich waren? Im Moment beherbergt Ann einen ehemaligen umF, dessen Antrag auf Schutz abgelehnt wurde. „Und ich war nicht einmal sein Vormund!“. Für sie ist es unmöglich, gegenüber der Gewalt eines Systems, das junge Menschen begleitet, solange das Gesetz sie dazu zwingt, gleichgültig zu bleiben, und sie sich letzten Endes selbst zu überlassen, bzw. zu versuchen, sie auszuweisen.

„Vorbildlich“ gesetz

In anderen Ländern sind Vormundschaftsdienste neueren Datums. Dies ist der Fall für Italien, das 2017 das Zampa-Gesetz zum Schutz von umF verabschiedete. Von vielen Nichtregierungsorganisationen wurde dieses als „vorbildlich“ begrüßt. Aber im Rest der EU scheinen nur wenige Regierungen geneigt zu sein, dem Beispiel von Belgien oder Italien zu folgen. In Ungarn wird nur Minderjährigen bis zum Alter von 14 Jahren ein Vormund zugewiesen (sie haben dann Anspruch auf einen Vertreter in ihrem Verfahren). Frankreich ist trotz einer mit Italien vergleichbaren Gesetzgebung zu einer „Maschine“ geworden, die „Kinder und ihre Träume vernichtet“, lautet die Überschrift eines vernichtenden Berichts über die Kriminalisierung dieser Minderjährigen.

In diesem Zusammenhang ist es schwer zu erkennen, wie einige der Empfehlungen der Kommission etwas bewirken könnten. „Um im Interesse der Migrantenkinder zu handeln, sollte die Altersgrenze nicht gesenkt, sondern ausgeweitet werden“, meint Elisabeth Schmidt-Hieber abschließend und fügt hinzu: „Die Jugendlichen sollten auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres unterstützt werden.“ In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall, was die Vorstellung verstärkt, dass Migrantenkinder in erster Linie Migranten - und keine Kinder - sind.

Dieser Artikel ist Mawda Shawri gewidmet, die 2016 als Tochter irakisch-kurdischer Eltern in Deutschland geboren und 2018 von einem belgischen Polizisten getötet wurde, als sie versuchte, mit ihrer Familie das Vereinigte Königreich zu erreichen. Der Offizier wird wegen Totschlags angeklagt. Das Urteil des Gerichts von Mons wird für den 12. Februar 2021 erwartet.

👉 Die anderen Artikel der Serie.

👉 Lesen Sie auch unsere Serie über die "Europa Träumer", junge Menschen ohne Papiere, Visum oder Nationalität im Zeitalter des Coronavirus, die in Zusammenarbeit mit Lighthouse Reports und dem Guardian entstanden ist.

In Zusammenarbeit mit der Heinrich Böll Stiftung – Paris


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