Europas vorgetäuschte Naivität gegenüber den Euroskeptikern

Veröffentlicht am 5 Juli 2014 um 12:36

Der Triumph der euroskeptischen, ausländerfeindlichen Parteien bei den europäischen Parlamentswahlen am 25. Mai wird von einer massiven Ablehnung der europäischen Institutionen begleitet, die den Philosophen Slavoj Žižek zu der Frage veranlasst: „Warum hat die xenophobe Rechte eigentlich so lang gebraucht, bis sie diesen entscheidenden Erfolg erringt?“ Schließlich, so Žižek im The New Statesman, hebe sich eine Politikerin wie Marine Le Pen, Chefin der französischen rechtsextremistischen Partei Front National, „klar von den sterilen europäischen Technokraten ab: Sie spricht die Sorgen der kleinen Leute an und bringt wieder Leidenschaft in die Politik.“
Da der Wahlerfolg der Front National und der übrigen anti-europäischen Parteien am 25. Mai vorauszusehen war, überraschte die „vorgetäuschte Naivität“ der Linken in Bezug auf das Ergebnis. Žižek zufolge würden die Technokraten in Brüssel und die rechtspopulistischen Euroskeptiker die zwei Seiten einer Münze darstellen:

Die heutige Politik stützt sich auf eine entpolitisierte Expertenadministration und koordinierte Interessen. Um wieder leidenschaftliche Debatten anzufachen und die Menschen zu mobilisieren, muss man ihnen Angst machen: Angst vor Migranten, Angst vor Verbrechen, Angst vor unvorstellbar grausamen sexuellen Straftaten, Angst vor Übergriffen des Staats, der die Steuerlast ständig erhöht, Angst vor Umweltkatastrophen, Angst vor Belästigungen etc.
Euroskeptiker wie Marine Le Pen finden Anklang beim Volk, weil sie die regierende europäische Elite, die laut Žižek „immer weniger zu regieren versteht”, an den Pranger stellen:
Wie geht Europa mit der Griechenlandkrise um? Es setzt die Griechen unter Druck, damit sie ihre Schulden tilgen, gleichzeitig wird die Volkswirtschaft durch die Sparmaßnahmen abgewürgt und somit sichergestellt, dass Griechenland seine Schulden niemals abzahlen kann. [...] Die Forderungen und Befehle Europas [...] lassen Griechenland keine Chance, weil die Zahlungsunfähigkeit des Landes zu den Spielregeln gehört.
Žižek vertritt zudem die Ansicht, dass der Zulauf, den der ausländerfeindliche Populismus derzeit erfährt, dem „Fehlen einer linken Alternative zum globalen Kapitalismus“ zuzuschreiben sei, aber auch beweise, dass es „einst ein revolutionäres Potenzial gab, eine Unzufriedenheit, die die Linke nicht zu nutzen wusste“.
In The Guardian, betrachtet der Journalist Antony Loewenstein Žižeks Argumente vor dem Hintergrund der Korruption im kränkelnden Gesundheitssystem Griechenlands. Loewenstein beschreibt eine Podiumsdiskussion, an der er kürzlich teilnahm:
Das Publikum meinte, die dunkle, rassistische Vergangenheit und die ihr sehr ähnliche Gegenwart Griechenlands sei abzulehnen. Doch ist es nicht einfach, den Einsatz und Missbrauch nationalistischer Ideen durch die rechtsextremistischen Parteien und die gegenwärtige Regierung wirksam zu kontern. Zum Glück gibt es Anzeichen dafür, dass viele Griechen jene, die direkt an der aktuellen Krise Schuld haben, dafür verantwortlich machen, und nicht die IWF-Chefin Christine Lagarde, die nicht zugeben will, dass ihre Organisation die schwächsten Griechen bestraft hat.

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