Presseschau (Dis)Equality

Geschlechtsspezifische Gewalt. Affektive Erziehung und Liebe

Gewalt und das Verhältnis zu Liebe, Sex und Gleichheit in der europäischen Presse.

Veröffentlicht am 6 März 2024 um 17:10

Anlässlich des Internationalen Tages der Frau - und der Frauen - veröffentlichen unsere Partner vom Mediterranean Institute for Investigative Reporting (MIIR) eine Data-Studie zu Femiziden und geschlechtsspezifischer Gewalt in Europa. Sie wurde in Zusammenarbeit des European Data Journalism Network und Voxeurop erstellt. 

Die analysierten Daten berücksichtigen 28 Länder: „Von den insgesamt 12.431 vorsätzlichen Tötungsdelikten an Frauen (Eurostat) für die Jahre 2012-2022 wurden 4.334 Frauen von einem Intimpartner getötet. Dies entspricht 34,86 Prozent aller vorsätzlichen Morddelikte, was bedeutet, dass mehr als jedes dritte Opfer von ihrem Intimpartner vorsätzlich getötet wurde”. 

Das Thema Frauenmorde zeigt, wie wichtig es ist, ein Phänomen mit Zahlen zu belegen und es klar beim Namen zu nennen. Die öffentliche Debatte in Europa ist nach Jahren des Schweigens, des Sexismus und der Zweideutigkeiten heute von dem Begriff „Feminizid” geprägt. Ein Wort mit Geschichte, das nicht immer korrekt verwendet wird, wie die französische Historikerin Christelle Taraud für Voxeurop erklärt

Affektive Erziehung 

Manche Ereignisse prägen eine Epoche. Die Ermordung von Giulia Cecchettin (22) am 11. November 2023 durch ihren Ex-Partner war in Italien ein Wendepunkt, da die Familie mit ihrer Haltung eine private Tragödie zu einem kollektiven politischen Thema machte. Wir brauchen eine „umfassende sexuelle und affektive Aufklärung”, forderte Giulias Schwester Elena Cecchettin in einem Brief, den der Corriere della Sera nach der Tragödie veröffentlichte. 

„Auch nach Cecchettins Tod wurde viel darüber gesprochen, wie die vorherrschenden kulturellen Modelle geschlechtsspezifische Gewalt begünstigen, und die Frage der affektiven Erziehung in der Schule ist in der öffentlichen Debatte wieder aufgetaucht”, schreiben die Schriftstellerinnen und Übersetzerinnen Lorenza Pieri und Michela Volante in Il Post. „In Schulbüchern sind Sexismus, geschlechtsspezifische Vorurteile und sekundäre Viktimisierung noch immer eine Konstante”, kritisieren sie, "seit Generationen haben wir auch durch die Schulliteratur eine unausgewogene ‘affektive Kultur’ mitbekommen und verinnerlicht”.  

Mit viel Ironie nehmen die beiden Autorinnen die großen Klassiker der italienischen Literatur unter die Lupe: „In den Minne-Gedichten ist Liebe das zentrale Thema. In Der rasende Roland sind die beiden wichtigsten Liebesgeschichten nicht nur qualvolle Liebschaften voller Hindernisse, sondern die Protagonisten zeigen auch eine Reihe von Reaktionen, die man heute als schwere Pathologien bezeichnen würde” (und diese Lesart könnte auf alle großen Klassiker der Nationalliteratur angewendet werden).

Liebe und Sex

Die Auseinandersetzung mit Liebe in all ihren Formen - Paarbeziehungen, Sex, Familie - ist der Schlüssel, um das strukturelle Gewaltverhältnis aufzubrechen, das Liebesbeziehungen regelrecht aufgepfropft wird, erklärt die Wissenschaftlerin und Feministin Lea Melandri in einem Interview mit Voxeurop

Denn es gibt ein Problem mit der Liebe. Liebe ist ein wichtiges Thema und es muss über sie gesprochen werden. Und das geschieht auch in der europäischen Presse, allerdings wird dabei noch immer viel Schwarz-Weiss gemalt. 

Das muss sich ändern ! Als erstes muss Liebe aus dem kulturellen Käfig befreit werden, der sie zur „Frauensache” macht. Denn Liebe interessiert alle, ihre Anwesenheit, ihre Abwesenheit, ihre Neurosen betreffen absolut jeden. 

Auf Eurozine befasst sich eine Serie mit dem Titel „Wie wir lieben” unter anderem mit diesem Thema: „Liebesmangel und wachsende Ressentiments haben eine giftige, auf Frauenfeindlichkeit basierende Online-Kultur hervorgebracht, in der Feministinnen als das ultimative Problem wahrgenommen werden. Wir sprechen mit unseren heutigen Gästen über Liebe, Incels und darüber, warum das alles nicht schlimmer sein könnte.”


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Viele europäische Zeitungen widmen Liebe und Intimität eine eigene Rubrik : Love and Sex heisst sie in The Guardian (der regelmäßig Blind Dates zwischen seinen Lesern organisiert), die Taz nennt sie Gender und Sexualitäten und El Pais schlicht Amor

Ich möchte auch auf La Déferlante hinweisen, Frankreich nach eigenen Worten „erstes vierteljährliches Post-#metoo-Magazin”, das sich mit den Themen S'aimer (Sich lieben) Baiser (Vögeln) und Réinventer la famille (Familie neu erfinden) auseinandersetzt.  

In Libération widmet sich die Kolumne Intimités dem Sex- und Gefühlsleben der Franzosen, nachdem eine im Februar veröffentlichte Umfrage ergeben hat, dass ausgerechnet im Land der Liebe die Menschen immer weniger Sex haben. Nicht nur ist die Zahl derer, die angegeben haben, im letzten Jahr Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, um 15 Prozent gesunken, sondern auch bei den unter 25-Jährigen war das nur bei einem Viertel der Befragten der Fall. „In Zeiten von Tinder, Grindr, Bumble und Co., in dem Aids-Tests für jedermann verfügbar sind, die Pille und Kondome bis 25 kostenlos sind und Abtreibung relativ einfach gemacht werden können, scheinen diese Zahlen kontraintuitiv zu sein”, meinen Kim Hullot-Guiot und Katia Dansoko Touré

Die französische Tageszeitung lässt außerdem Menschen zu Wort kommen, die sich entschieden haben, aus dem „Sex-Markt” auszusteigen. So wie die französische Schauspielerin, Schriftstellerin und ehemalige Sexarbeiterin Ovidie, die behauptet, seit Jahren im Sexstreik zu sein: „Ich weiß nicht, ob man heute weniger fickt, ich glaube, früher hat man sich einfach nicht getraut, das zu sagen. Wenn man nicht fickt, verliert man seinen sozialen Status, vor allem, wenn man eine Frau ist.”

Sex ist überall, aber wird er tatsächlich immer weniger praktiziert? Ja! Vielleicht auch, weil Sexualität, Liebe und Intimität in einer neoliberalen Gesellschaft, die dem Einzelnen Regeln und Normen auferlegt, eine „kapitalistische-Dimension” haben.

In der französischen Zeitschrift Usbek & Rica versuchen die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz und der Philosoph Alain Badiou in einem Gespräch diesen Widerspruch zu erklären: „Wir erleben eine Politisierung der Liebesbeziehung: Es wird immer weniger akzeptiert, dass sie gemeinsamen und öffentlichen Werten widerspricht. Die Liebe muss heute die Gleichheit und Freiheit jedes Einzelnen widerspiegeln”, sagt Illouz, Autorin von Warum Liebe weh tut (Suhrkamp, 2011), einer der wichtigsten Texte zur Kritik der Liebe in Zeiten des Kapitalismus (auf Englisch: Why Love Hurts: A Sociological Explanation, Polity Press, 2012). 

Zusammen mit Dana Kaplan ist Illouz außerdem Autorin eines Textes, der 2022 auf Englisch und Ende 2023 auf Französisch veröffentlicht wurde : What Is Sexual Capital? - „Le capital sexuel”: quand la sexualité devient un atout professionnel. Eine Rezension gibt es auf Englisch in Engenderings und auf Französisch in L'Echo. Erklärt wird darin, was das individuelle „sexuelle Kapital” ist und was daraus für ein sozialer Druck entsteht. Denn angesichts dieses Marktes kommt es zur Ausgrenzung von nicht markt-kompatiblen Individuen.

Der Begriff Liebe sollte also dringend neu diskutiert, auseinandergenommen, neu zusammengesetzt und von allen Klischees befreit vielleicht sogar neu bewertet werden. 

In Krytyka Polityczna analysiert die polnische Philosophin, Forscherin und Psychoanalytikerin Agata Bielińska Liebe unter dem Blickwinkel der progressiven Sphäre, die sie gewöhnlich als bürgerlichen Firlefanz kritisiert. Ihrer Meinung nach sollte Liebe dringend wieder in den Kontext einer individuellen Sphäre und der Emanzipation gestellt werden: „Nur wenig Emotionen lösen in progressiven Kreisen so viel Bestürzung aus wie die Liebe. Kein Wunder, denn die Liebe ist ideologisch verdächtig und völlig unvereinbar mit der herrschenden Vorstellung. [...] Sie zwingt uns in unnötiges Leid, verewigt Ungleichheiten und lenkt uns von gemeinsamen Zielen ab.” Denn, so Bielińska weiter, „Liebe ist klassistisch, sexistisch, nicht egalitär.” Dennoch könne sie uns eines lehren, nämlich „unsere Abhängigkeit und unseren Unglauben zu erkennen und die Zerbrechlichkeit, der die Liebe ausgesetzt ist.” 

In The Conversation betrachtet Jamie Paris die Liebe als Werkzeug für männliche Emanzipation: "Die Liebe kann ein Tool für die antirassistische und entkolonialisierte Erziehung sein, aber nur, wenn wir Männer (und Frauen und nicht-binäre Personen) dazu ermutigen, das Risiko einzugehen, Gefühle der Zärtlichkeit für andere auszudrücken. [...] Liebe kann weder an Orten der Unterdrückung oder des Missbrauchs entstehen, noch kann sie durch Machtstrukturen und Kontrolle erzwungen werden.” „Wenn Liebe etwas ist, das wir bewusst tun und erleben, und nicht nur etwas, das wir fühlen, dann ist sie etwas, das Menschen lernen können, besser zu tun”, so Paris.

Genau das ist auch, was die amerikanische Feministin Bell Hooks (1952-2021) in ihren Büchern All about love (2020) und in The Will to Change: Men, Masculinity and Love erklärt hat. Und es ist kein Zufall, dass eben diese Bücher in den letzten drei oder vier Jahren in europäischen Ländern neu übersetzt und neu verlegt (wenn nicht sogar zum ersten Mal übersetzt) wurden. 

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