Glucksmann: „Europa leidet auch am Scheitern der Intellektuellen“

Europa durchläuft eine Vertrauenskrise und ist gezwungen, seine demokratischen Grundlagen zu überdenken. Bei diesen Herausforderungen ist es nötig, die Solidarität innerhalb der EU zu stärken und eine Gemeinschaft aufzubauen, die offensiver auf die Herausforderungen von Außen reagiert, meint der französische Intellektuelle André Glucksmann.

Veröffentlicht am 4 September 2012 um 10:47

Die EU hat ihre Anziehungskraft nicht eingebüßt, niemand verlässt freiwillig die Euro-Zone.

Glucksmann: Niemand tue freiwillig Böses, sagte Sokrates. Ich interpretiere das so: Das Böse geschieht, wenn der Wille erlahmt. Lösungen und Wege in der aktuellen Finanzkrise zu finden scheint mir keine übermenschliche Aufgabe. Die EU- Lenker finden sie ja auch immer wieder, von Mal zu Mal.

Von Gipfel zu Gipfel in Brüssel in immer kürzerem Abstand. Die angeblichen Lösungen halten nur nicht.

Glucksmann: Was fehlt, ist eine globale Perspektive. Das Warum der Europäischen Union, ihr Daseinszweck, ist abhandengekommen. Man wird immer eine Mög- lichkeit finden, die europäischen Institutionen zu verbessern und den Erfordernissen der Situation anzupassen. Da kann man sich auf die Findigkeit der Politiker und Juristen verlassen. Die Herausforde- rung stellt sich auf einer anderen Ebene, und es geht dabei sehr wohl ums Überleben: Wenn die alten europäischen Nationen sich nicht einigen und geschlossen auftreten, werden sie zugrunde gehen.

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Das haben die europäischen Führer doch wohl begriffen?

Glucksmann: Warum handeln sie dann kleinstaatlich? Die Frage der Größe ist in der Globalisierung eine absolute Notwendigkeit geworden. Frau Merkel fühlt bestimmt, dass Deutschlands Schicksal sich auch im europäischen Hinterhof entscheidet. Deshalb hat sie sich nach einigem Zögern zur Solidarität entschlossen, in Maßen. Dennoch lässt auch sie es zu, dass Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien in der Krise auseinanderdividiert werden. Wenn unsere Staaten sich unter dem Druck der Marktkräfte trennen lassen, werden sie untergehen, jeder für sich und alle gemeinsam.

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Lesen Sie den ersten Teil des Interviews auf Spiegel Online: *Das Krisenbewusstsein kennzeichnet die europäische Moderne***“**

André Glucksmann

Vom Maoisten zum Befürworter von NATO-Einsätzen

Der französische Philosoph und Essayist André Glucksmann (geb. 1937) war nach der Mai-Revolte 1968 im maoistischen Milieu aktiv, rechnete in seinem 1975 veröffentlichten Buch „Köchin und Menschenfresser – Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager“ und seiner 1977 erschienenen Abhandlung „Die Meisterdenker“ aber mit dem sowjetischen Totalitarismus und seinen Verfechtern im Westen ab.

Neben Bernard-Henri Lévy ist Glucksmann einer der führenden Köpfe der sogenannten „Neuen Philosophen“. Sie verstehen sich als französische Intellektuelle, deren Aufgabe es ist, die Beziehungen der politischen Linken zum Kommunismus kritisch zu hinterfragen.

Nachdem er sich für die Unterstützung der vietnamesischen „Boat People“ eingesetzt hatte, trat er – zum Schutz der Menschenrechte – im Laufe der Jahre für die NATO, den Golfkrieg, die Planung eines Einsatzes in Bosnien-Herzegowina, die Angriffe der NATO auf Serbien und die Invasion des Iraks ein. Vor dem Hintergrund seiner Bemühungen, gegen Wladimir Putin vorzugehen und den tschetschenischen Separatisten zu helfen, unterstützte er Nicolas Sarkozy bei den Präsidentschaftswahlen 2007. Im Nachhinein gab er öffentlich zu, diese Entscheidung zu bereuen und verurteilte Frankreichs viel zu entgegenkommende Haltung gegenüber Russland.

Zu Glucksmanns Werken gehören unter anderem L'Esprit post-totalitaire (1986) [Der post-totalitäre Geist], De Gaulle où es-tu (1995) (in Deutschland unter dem Titel „Krieg um den Frieden" erschienen), sowie Dostoïevski à Manhattan, in dem er sich mit den Anschlägen vom 11. September auseinandersetzt.

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