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Großbritannien ohne die EU: weniger statt mehr Souveränität

Eine Umfrage des Observer zeigte unlängst, dass die Briten einen Austritt aus der EU klar befürworten. Die britische Sonntagszeitung ist der Ansicht, ein solcher Rückzug hätte schwerwiegende Folgen für das Land.

Veröffentlicht am 20 November 2012 um 12:35

Großbritannien scheint sich fast unaufhaltsam auf einen Kurs zu versteifen, der seinen Status als Vollmitglied der Europäischen Union beenden wird. Eine neue Meinungsumfrage des Observerdeutet darauf hin, dass 56 Prozent der Briten, wenn Sie in einem Referendum klar mit Ja oder Nein stimmen müssten, zum Austritt aus der EU tendieren würden – ein weiteres Beispiel für die Intensität der antieuropäischen Stimmung im Land. Es ist nun so gut wie sicher, dass sich die beiden größten politischen Parteien in Großbritannien dazu verpflichtet fühlen werden, in ihren Programmen für die nächsten Parlamentswahlen ein derartiges Referendum vorzuschlagen. Und wenn Europa nicht plötzlich attraktiver wird oder die Pro-Europäer mit besseren Argumenten aufwarten können, dann ist das Resultat eines solchen Referendums vielleicht unvermeidlich.

Beim EU-Gipfel diese Woche, bei dem die 27 Staaten versuchen werden, sich auf den EU-Haushalt für die kommenden sieben Jahre zu einigen, wird die Wahrscheinlichkeit eines kompletten Austritts wohl noch größer werden. Früher machte die Landwirtschaft den Löwenanteil der europäischen Ausgaben aus. Heute entfällt der Großteil auf die Infrastrukturen ärmerer Mitgliedsstaaten, auf Forschung und Entwicklung sowie auf die Umsetzung paneuropäischer Initiativen wie die vorgeschlagene Bankenunion. Ein Einfrieren der Ausgaben ist angesichts der akuten Bedürfnisse in Süd- und Osteuropa unwahrscheinlich; die anderen 26 Länder werden sich vermutlich auf eine kleine, preisbereinigte Erhöhung einigen.

Ein zweites Hong-Kong?

Dem wird Großbritannien nicht zustimmen. David Cameron steckt fest zwischen seinen eigenen, zunehmend selbstsicheren, euroskeptischen Tory-Hinterbänklern und einer opportunistischen Labour-Partei, die in dieser Debatte taktisches Kalkül ihren Grundsätzen vorgezogen hat. Er weiß, dass er einen derartigen Vorschlag im Parlament nicht durchbringen kann, aber der hysterischen Kritik des Budgets durch die überwiegend rechtsliberalen Medien der Euroskeptiker kann er auch nicht standhalten. Das zwingt ihn dazu, sein Veto gegen die Einigung einzulegen und somit das Misstrauen zwischen Großbritannien und seinen europäischen Nachbarn noch tiefer zu verfestigen. Jegliche Zugeständnisse, sei es um ein Referendum über eine nur halb losgelöste Beziehung zu gewinnen, werden dadurch deutlich unwahrscheinlicher.

Die konservativen Euroskeptiker werden sich freuen. Ihrer Meinung nach hat die Mitgliedschaft in der EU zu Großbritanniens langwierigem Konjunkturrückgang beigetragen. Wie die Tea Party in den Vereinigten Staaten stellen sie Großbritannien einen ähnlichen Status wie Hong-Kong in Aussicht: minimaler Schutz am Arbeitsplatz, die Chance, sich zum Steuerparadies zu entwickeln, Europas wirtschaftlicher und politischer Abtrünniger zu werden ... Und dabei stellen sie sich vor, dass die EU eine ungerechte, unregulierte Konkurrenz ohne weiteres akzeptieren wird. An diesen Weg zur wirtschaftlichen Erlösung zu glauben, ist in der Tat abstrus.

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Subunternehmer der Welt

Stattdessen ist eine Katastrophe in allen Bereich absehbar. Großbritanniens Massenautomobilindustrie wird sich in kostengünstige Länder innerhalb der EU auslagern. Viele andere Firmen des produzierenden Gewerbes werden folgen, die Airbus-Fertigung wird nach Frankreich und Deutschland abwandern. Es sind schon jetzt gewaltige Schäden zu verzeichnen: Berlin legte sein Veto gegen das Abkommen von BA mit dem Verteidigungsriesen EADS zum Teil auch deshalb ein, weil Deutschland einen EU-Austritt Großbritanniens voraussieht. Es wollte demnach nicht, dass sich die europäische Verteidigungsindustrie in einem Nicht-EU-Staat konzentriert. Die britische Finanzdienstleistungsindustrie wird durch Bestimmungen geregelt, die in Brüssel festgesetzt werden und wird diesen nicht standhalten können. Britische Landwirte, deren Betriebe unter der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) florierten, werden feststellen, dass sie jedwedem engherzigen britischen System, das die GAP ersetzen soll, ausgeliefert sein werden. Bauernhöfe werden nur durch industrielle Landwirtschaft überleben können, auf Kosten der geliebten englischen Landschaft.

Steuerumgehung und Steuerflucht werden lähmende Ausmaße erlangen, während unsere Wirtschaft zunehmend in den Besitz von ausländischen multinationalen Konzernen gerät, die eine Steuerumgehung in Großbritannien zum wesentlichen Bestandteil ihrer Geschäftsstrategie machen werden. Kein Euroskeptiker beschwert sich jemals über die Veräußerung Großbritanniens an Ausländer – dabei schränkt diese unsere Souveränität viel stärker ein als Brüssel.

Wir werden zum Subunternehmer der Welt werden, ohne jede ökonomische Eigenständigkeit, zu einer zerstückelten Wirtschaft, die einer ungeschützten Öffentlichkeit ohne Sozialverträge schlecht bezahlte Zeitarbeit bietet, weil unsere Steuergrundlagen verschwunden sein werden.

Zeit den Mund zu öffnen

Das wissen die Meinungsführer in Großbritannien – die meisten Mitglieder in der Führung unserer wichtigsten Parteien, auch bei den Torys, die Geschäftsführer unserer großen Unternehmen, unsere kulturelle Elite, unsere Gewerkschaftsführer, unsere Universitäten und auch einige Intellektuelle. Doch schweigen sie alle, drangsaliert und eingeschüchtert von der erdrückenden Macht der euroskeptischen Medien, und verlieren wegen der Eurokrise den Mut. Dabei richtet die EU Mechanismen ein, damit der Euro nicht nur überlebt, sondern auch prosperiert – einen Rettungsmechanismus, eine Bankenunion, eine engere finanzpolitische Koordination und mehr politische Zusammenarbeit. Die EU und die Einheitswährung werden in zehn Jahren noch hier sein – die Instrumente, mit denen unser Kontinent die Globalisierung und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen kann. Wir können die Abtrünnigen am Rande sein oder an einem der größten Projekte unseres Zeitalters mitwirken. Wer an Europa glaubt, muss anfangen, das laut zu sagen – und zwar dringend.

Gegenmeinung

EU-Haushalt in Zeiten des Sparens moralisch verwerflich

In seiner wöchentlichen Kolumne im Daily Telegraph schreibt Boris Johnson, dass es in Zeiten, in denen alle Sparen müssen, „erstaunlich“ sei, dass die EU-Kommission eine Erhöhung von 5 bis 6,8 Prozent ihres Haushalts einfordere. Der freimütige Londoner Bürgermeister habe „keinen Zweifel daran“, dass Premierminister David Cameron beim kommenden Gipfel am Donnerstag …

sein Veto gegen diesen Pakt einlegen wird. Nicht nur, dass jeder vernünftige Mensch in diesem Land — und im Rest Europas — ihm zujubeln wird: Er hat auch politisch, intellektuell, moralisch und in jeder anderen denkbaren Hinsicht Recht.

Im Mittelpunkt von Johnsons Argumentation steht, dass 5,2 Milliarden Euro des Budgets an „Allzweck-Gauner“ gingen, „die uns allen das Geld aus der Tasche ziehen“.

Dies ist ein Haushalt, der so gespickt ist mit Betrug und Fehlverhalten, dass es seit 18 Jahren noch nie einen Persilschein vom Europäischen Rechnungshof gegeben hat. [...] Wälder werden als Felder ausgegeben, die bezuschusst werden. Im vergangenen Jahr musste selbst die EU-Kommission eingestehen, dass die Mittel an Rumänien — 515 Milliarden Euro — an Betrügereien und Schummeleien aller Art gegangen sind. Hand aufs Herz, sagte Brüssel, es sieht aus, als erreichten nur 10 Prozent die vorgesehenen Ziele.“

[...] Die EU-Beamten stehen an der Spitze eines immensen und diebischen Missbrauchs von öffentlichen Geldern, und nun besitzen sie die Frechheit, uns zu sagen, dass sie eine Erhöhung brauchen, die über der Inflationsrate liegt, um weiter zu zahlen, unter anderem für das ständige, immer noch nicht reformierte Hin und Her zwischen Brüssel, Luxemburg und Straßburg.

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