Guimarães – mit Kultur aus der Krise

Die portugiesische Stadt Guimaraes setzt auf den Titel europäische Kulturhauptstadt, um die Krise zu überwinden. Dafür werden aus alten, stillgelegten Textilfabriken Mehrzweckhallen.

Veröffentlicht am 25 Januar 2012 um 13:31

Die hübsche portugiesische Kleinstadt mit 50.000 Einwohnern, Hauptstadt der Region Valle del Ave wird von der Krise, ja von mehreren Krisen gleichzeitig gebeutelt. In den Achtzigern und Neunzigern wurden die riesigen Textilfabrikanlagen im gesamten Tal nach und nach zugunsten der aufstrebenden Konkurrenz aus China stillgelegt. Seitdem siechen sie wie alte, unnütze Dinosaurier dahin.

Auch die wie ein Juwel erhaltene Altstadt von Guimaraes im Schatten des Schlosses ist umgeben von leeren Fabrikgebäuden mit Schloten aus toten Ziegeln. Die Bewohner aber haben beschlossen, ihnen neues Leben einzuhauchen, indem sie zu Orten für Bilder und Konzerte und Theater werden, was ganz nebenbei auch sich selbst das Überleben sichert.

Am vergangenen Samstag wurde in der Stadt, die 150 km von Vigo entfernt liegt, der offizielle Auftakt der Europäischen Kulturhauptstadt gefeiert und viele dieser Fabrikgebäude zu Bühnen, Filmkulissen oder zu Quartieren für Künstler mit einem Stipendium umgewandelt. Ganz nach dem Motto: sich selbst neu erfinden oder sterben.

Aus Fabriken mach Kulturzentren

Die Ramada Fabrik, eine alte Industrieanlage für Ledergerberei wurde vor vielen Jahren geschlossen und wird ab September ein Institut für Design beherbergen, aber vorher wird sie auch als Proberaum für das Orchester der Stadt dienen. Die ASA- Fabrik, die früher auf Bettwäsche und Handtücher spezialisiert war und außerhalb von Guimaraes, in der Ortschaft Vizela e Santo Tirso liegt, hat ihren Betrieb 2006 einstellen müssen. Heute ist es dank eines Privatinvestors gelungen, die Stadt zu einer Art Einkaufszentrum für Billigläden zu machen. Bevor es aber so weit ist, werden auf dem 24.000 Quadratmeter großen Areal noch die wichtigsten Kunstausstellungen der Kulturhauptstadt zu sehen sein.

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In der gespenstig wirkenden Textilfabrik von Conde de Vizela, wo im 19. Jahrhundert mehr als 4.000 Angestellte arbeiteten und die sogar eine eigene Währung besaß, werden Filmregisseure wie Víctor Erice, Jean-Luc Godard oder Aki Kaurismäki (der Finne wohnt in der Nähe von Guimaraes) einen gemeinsamen Film drehen.

Die Stadt wehrt sich dagegen, dass die Filmindustrie nur kurz unter dem Vorwand der Kulturhauptstadt 2012 vorbeischaut und dann wieder verschwindet, und hat eine eigene Produktionsfirma gegründet, damit die Stadt zu einem Magneten für Kinoliebhaber wird: “Für 2013 haben wir schon Zusagen für Filmproduktionen, die sonst nach Osteuropa abgewandert wären. Erice selbst sagt, dass er gern hier drehen würde”, versichert Rodrigo Areias, der Zuständige für den audiovisuellen Bereich bei Guimaraes 2012.

Areias erklärt all das in einer anderen alten Fabrik von Guimaraes, die auf Anregung einer Gruppe junger Architekten aus der Stadt, zum Zentrum für Kultur und Architektur umfunktioniert wurde. Jeder Raum hat eine andere Bestimmung; von der Unterkunft für ausländische “Artists in residence”, über ein audiovisuelles Labor für animierte Roboter und mobile Spielzeuge, die das Herz eines jeden Informatikverrückten höher schlagen lassen würde, die aber auch jeden anderen Verrückten begeistern kann.

Wir spielen zusammen

“Hier verbringen die Stadtbewohner die Nacht”, sagt Areias mit einem Lachen. Vielleicht liegt darin auch das Geheimnis: die Stadt und ihre Bewohner, die 2001 zum Weltkulturerbe erklärt wurde, sehen den Titel Europäische Kulturhauptstadt eher als eine Chance, denn als eine Party. Für viele ist es eine einmalige Gelegenheit, die vielleicht nie wieder kommen wird.

Die Veranstalter sind sich einig: “Wir wollen nicht, dass die sehr teuren Berliner Philharmoniker kommen, hier einmal ein schönes Konzert spielen und dann gehen und tschüss”, sagt einer der Pressesprecher der Kulturhauptstadt. “Wir möchten etwas Bleibendes aufbauen, das uns hilft, die Stadt neu aufzustellen und das auch den Menschen hier nützt”, fügt er hinzu. Deshalb lautet auch einer der Slogans: “Und ich bin ein Teil”. Fast alle Bewohner von Guimaraes tragen diesen Slogan auf einem kleinen Anstecker am Revers.

Das Budget fällt mit 110 Millionen Euro eher bescheiden aus [in der Zwischenzeit wurde das Kulturbudget krisenbedingt von 41 auf 25 Millionen Euro gekürzt]; das ist die Konsequenz eines Jahres, in dem für Portugals seine Zukunft als zahlungsfähiger Staat im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Spiel steht – es droht der Staatsbankrott, und die Troika überwacht. Deshalb war so wichtig, kreativ zu denken.

Ein Beispiel macht das deutlich: Die innovative Band Buraka son Sistema wird am 28. Januar im Mehrzweckpavillon auftreten, ein Symbol der portugiesischen Moderne. An diesem Tag ist auch eine Vorstellung mit dem Titel Mi casa es tu casa vorgesehen, bei der die Einwohner der Stadt ihre Wohnung oder ein Zimmer oder auch nur ihren Flur als Bühne für andere Bands zur Verfügung stellen. Bislang gibt es 40 Wohnungen, die dafür offenstehen.

Die stolzen Einwohner von Guimaraes machen also mit. Nicht umsonst bezeichnen die Historiker die Stadt als Geburtsstätte Portugals. Hier wurde auch der erste König der Portugiesen, Alfonso Enriquez geboren, der im berühmten Stadtschloss residierte, der mit der Zeit auch aussieht wie eine alte, verlassene Fabrik. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass das offizielle Eröffnungsprogramm am Sonntag mit einem Dokumentarfilm über die portugiesische Musik startet, mit dem symptomatischen Motto Vamos a tocar todos juntos para oírnos mejor: Wir spielen zusammen, um uns besser zu hören.

Sparpolitik

Kleinbudget für europäische Kulturhauptstädte

“Noch nie wurde eine europäische Kulturhauptstadt mit einem so niedrigen Budget organisiert”, betont Expresso. Die für Guimarães 2012 vorgesehenen 25 Millionen Euro sind ein Klacks im Vergleich zu den 226 Millionen, die Porto im Jahr 2001 zur Verfügung hatte. Zurückzuführen sei dies auf “die derzeitige wirtschaftliche Situation in Europa und die Änderungen der letzten Jahre am Konzept der europäischen Kulturhauptstadt”, erklärt die Wochenzeitung aus Lissabon. Das seit 2007 in Kraft getretene Modell sieht für jedes Jahr zwei mittelgroße Städte vor: Guimarães teilt sich den Titel mit der slowenischen Stadt Maribor.

Früher nutzten die Städte die Situation dazu, kulturelle Einrichtungen zu bauen, heute dominiert die Vernetzung mit dem kulturellen Gefüge der Region. Deshalb fragt sich der portugiesische Philosoph Eduardo Lourenço, ob “diese Feiern über den internen Effekt hinaus denn überhaupt Auswirkungen haben” und ob die Initiative noch Sinn hat, während doch von den europäischen Hoffnungen, die ihr zugrunde liegen, nicht mehr viel übrig ist.

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