Ideen Invasion in der Ukraine | Aus belarussischer Sicht

Viktor Martinowitsch: „Ich kenne keinen einzigen Belarussen, der die Invasion der Ukraine unterstützt“

Ungeachtet der Risiken und der Unterdrückung, die die Belarussen seit dem demokratischen Aufstand von 2020 ertragen mussten, macht die militärische Unterstützung des Regimes für die Invasion in der Ukraine ihren Kampf in den Augen der Welt zunichte, beklagt der belarussische Autor Viktor Martinowitsch.

Veröffentlicht am 10 März 2022 um 23:03

Ich bin jemand, der einen blauen Reisepass hat. Die goldene Prägung auf diesem Pass zeigt das Wappen meines Landes. Meine Staatsangehörigkeit steht in gleich drei Sprachen auf dem Einband des Passes, darunter auch auf Englisch, und jeder Europäer, der diesen Pass sieht, weiß sofort, aus welchem Holz ich geschnitzt bin. Ein Schurke bin ich und ein Ungeheuer, das steht dort in drei Sprachen.

Ich bin zu verachten. 

Die Reifen meines Autos sind zu zerschneiden. 

Die Scheiben einzuschlagen. 

Dass ich mich in Ihrer Stadt aufhalte, muss der Polizei gemeldet werden, denn wer kann schon wissen, ob ich vielleicht Spion oder Saboteur bin? Würde ein europäischer Grenzbeamter meinen Pass sehen, würde er mich ans Ende der Warteschlange schicken. Formal gesehen deshalb, um Frauen und Kinder vorzulassen, die vor dem Krieg fliehen. Aber jeder wüsste sofort, worum es eigentlich geht. Die ganze Schlange würde es verstehen. Und niemand würde seinen verächtlichen Blick verhehlen. Es gibt eine weitere feine Art, seine Haltung zum Ausdruck zu bringen: Man spuckt auf den Boden. Eigentlich ist es keine Beleidigung. Da hat jemand nur einen zu bitteren Geschmack im Mund.

Ich bin Bürger der Republik Belarus. Vom Territorium des Landes, das mir den Reisepass ausgestellt hat, starten Flugzeuge, um die Ukraine anzugreifen. Von dort werden auch Raketen abgefeuert, die ukrainische Städte zerstören. Deshalb bin ich schuldig.

Ich, ein biologischer Sonderfall, ein Belarusse aus Belarus. Mein derzeitiger Lebensraum ist nicht Polen, Litauen oder Deutschland, sondern Belarus. Solche wie ich, die nicht im Einklang mit dem System denken und atmen, haben bereits 2021 mehrheitlich das Land verlassen. Ich beschloss zu bleiben, nachdem ich erfahren hatte, was Massenverhaftungen sind. Noch vor einigen Wochen wurde das als Kühnheit und Kampfansage aufgefasst. Emigranten schrieben mir Worte der Unterstützung, und die Hiergebliebenen sagten mir, sie seien froh, in dieser trüben Finsternis nicht allein zu sein. 

Jetzt wird das als Feigheit aufgefasst.

Als Unwilligkeit, die verächtlichen Blicke der Europäer auf sich zu spüren.

Aber lassen Sie mich ein paar Worte zu meiner Verteidigung sagen. Schließlich hat sogar ein Angeklagter das Recht auf ein letztes Wort. Selten, oder im Falle der Justiz in Belarus nie, nimmt es Einfluss auf die Härte des Urteils, doch so findet die Wahrheit des Schuldigen wenigstens Gehör.

Also dann.

Der Mann, der die russische Armee auf unser Territorium ließ, ist kein von mir gewählter Präsident. Ich habe nicht für ihn gestimmt. Mehr noch, 2020 hatte so mancher den Eindruck, dass eigentlich niemand für diesen Mann gestimmt hat. „Drei Prozent“, hieß es damals. Erinnern Sie sich an die 400.000 Demonstranten auf den Straßen von Minsk, einer Stadt mit nur zwei Millionen Einwohnern? Diese 400.000 Menschen gingen damals nur auf die Straße, weil sie den sicheren Eindruck hatten, dass die offiziellen Wahlergebnisse, die den Sieg des Mannes erklärten, der dann die russische Armee ins Land ließ, gefälscht waren. Dass wir getäuscht wurden. Dass eine andere, ein ganz andere Kandidatin gewonnen hat, die sich nun im Ausland verstecken muss.


Der Mann, der die russische Armee auf unser Territorium ließ, ist kein von mir gewählter Präsident. Ich habe nicht für ihn gestimmt


Swetlana Tichanowskaja, die gewonnen hatte, aber unterlegen war, verurteilte die Invasion in die Ukraine unverzüglich und tut dies auch weiterhin.

Können wir für die Entscheidungen eines Politikers verantwortlich sein, den wir gar nicht gewählt haben? Und inwieweit trifft dieser überhaupt seine Entscheidung mit Rücksicht auf den Willen des Volkes? Nehmen wir an, jemand ist seit langem daran gewöhnt, sich selbst zum Sieger zu erklären – unabhängig von den tatsächlichen Wahlergebnissen. Nehmen wir an, dieser Jemand hat seit 2001 nichts hinter sich, was man als „Willen des Volkes“ bezeichnen könnte. Auf wen nimmt er dann Rücksicht? Wem gegenüber fühlt er sich rechenschaftspflichtig? 

Jenem, der hinter ihm steht. Der ihn vor Feinden, vor Europa und den Vereinigten Staaten schützt. Der ihm bei der UNO den Rücken freihält. Der ihm Geld gibt. Und das ist Wladimir Putin.

Als die russischen Raketen anfingen, Richtung Kiew zu fliegen, wurde jedem hier in Minsk auf einmal klar, warum Putin 2020 so konsequent die Augen vor den Geschehnissen in Belarus geschlossen hatte. Warum er taub blieb gegenüber den Bitten, er möge die auf den Straßen unserer Städte verhafteten Bürger, darunter auch russische Bürger, in Schutz nehmen. Alles klar! Die Ukraine interessiert Putin nicht als Land, sondern als Territorium. Als ein Ort, der von der NATO – Putins abstraktem Hauptfeind – in Beschlag genommen werden kann. Was die Menschen denken, die auf diesem Territorium leben – und was sie über Russland denken – das ist ihr Problem.

Mit Belarus war es dasselbe. Putin benötigte es nicht als Land, sondern als Territorium. Als Einfallstor für russische Truppen in die Ukraine. Deshalb brauchte er nicht auf das Geheul der russischen Liberalen zu hören, die die Verurteilung der Repressionen in Belarus forderten.

In dieser Situation ist Putin sowohl Natschalnik als auch das Volk. In dieser Situation ist es eigentlich nicht wichtig, was zehn Millionen Menschen mit blauen Pässen denken. In ihrem Namen kann man jede beliebige Entscheidung treffen. 

Mit dem Vorwand, man sei bei einer „fairen und ehrlichen Wahl“ gewählt worden.

Ich kenne keinen einzigen Belarussen, der die Invasion in die Ukraine unterstützt. Buchstäblich keinen einzigen. Belarus ist ein kleines Land, und im Gegensatz zu Russland standen wir nie im Bann imperialer Bestrebungen. Sie konnten hier einfach nicht aufkommen. Als Opfer des Kolonialismus sympathisiert man immer mit den Eroberten und nicht mit den Eroberern. Mehr noch, aufgrund der geographischen N…

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