Islands Verfassung 2.0

Nach dem Börsencrash 2008 stürzten die Isländer ihre Regierung. Mit der von den Bürgern selbst initiierten Revolution ist aber noch lange nicht Schluss. Nun sollen alle Internetnutzer an der neuen Verfassung des Landes mitschreiben.

Veröffentlicht am 4 Juli 2011 um 14:33

Während der Finanzkrise wuchs das Misstrauen der Isländer gegenüber den Politikern explosionsartig an. Sowohl vor den politischen Machthabern,als auch vor den Banken nehmen sich die Bürger in Acht. Das Vertrauen hat ein historisches Tief erreicht, das bisher nicht überwunden werden konnte. Im vergangenen Jahr sprachen nur 10,5 Prozent der Isländer dem Althing – dem isländischen Parlament – "großes Vertrauen“ aus. Viele haben den Eindruck, man habe sie verraten.

Folglich muss Transparenz das Grundprinzip der neuen Verfassung sein, an der das Land gerade arbeitet. Seit April veröffentlicht die verfassungsgebende Versammlung Althing auf ihrer Internetseite die groben Richtlinien des Projekts. Und ein jeder soll seine Ideen auf der Webseite oder über soziale Netzwerke mit anderen teilen.

So ist die verfassungsgebende Versammlung bei Facebook und Twitter vertreten und stellt regelmäßig Videos auf YouTube online. Außerdem sind alle Sitzungen öffentlich und werden live auf der Internetseite und Facebook übertragen.

Das Prinzip des öffentlichen Outsourcings bzw. Crowdsourcings besteht darin, einer nicht genau definierten Gruppe von Personen eine Aufgabe anzuvertrauen. Besonders im Internet war dies in letzter Zeit von immer mehr Erfolg gekrönt. Jedoch wird es nun erstmals mit dieser Zielstellung eingesetzt. Auf Facebook sorgte die Idee weltweit für Begeisterung.

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Eine neues Projekt für ein neues Land

Was die Flexibilität angeht, hat es eben seine Vorteile, in einem Land zu leben, das nur ca. 320.000 Seelen zählt. Mehr als die Hälfte der Bewohner hat ein Facebook-Konto. Und diejenigen, die keines besitzen, können auf der Internetseite der verfassungsgebenden Versammlung mitdiskutieren. Das Risiko eines solchen Projektes direkter Demokratie ist, dass nur eine ausgelesene Gruppe besonders eifriger Begeisterter wirklich daran teilnimmt. Aber genau so funktioniert Demokratie nun einmal: Freizeitangler fallen da nicht so ins Gewicht.

Aber zumindest hat jedermann die Möglichkeit, an den Debatten teilzunehmen: Laut OECD-Statistiken verfügen 80 Prozent der isländischen Haushalte über einen Breitband-Internetzugang. Zudem soll ein Referendum über den Verfassungsentwurf entscheiden, bevor dieser in Kraft treten wird. Hinter dem neuen Verfassungsrecht dürften dann also viel mehr Bürger stehen als hinter der gegenwärtigen Verfassung, die in aller Eile formuliert wurde. Als die Isländer 1944 ihre Unabhängigkeit von Dänemark erklärten, behielten sie die dänische Verfassung in der Tat mit wenigen Änderungen bei.

Diesmal wird es zu tiefgreifenden Veränderungen kommen. In der neuen Verfassung sollen der Umwelt- und Ressourcenschutz des Landes ganz besonders berücksichtigt werden. Darüberhinaus soll den Rechten der zukünftigen Generationen eine besondere Bedeutung beigemessen werden – verfassungsrechtlich zweifellos eine Premiere.

Allerdings kann das Ganze auch als Reaktion auf die vom amerikanischen Aluminiumhersteller Alcoa verursachten Zerstörungen der unberührten Landschaften Islands interpretiert werden. Durch den Bau des gigantischen Kárahnjúkar-Wasserkraftwerks 2006 wurden im Norden des Vatnajökulls riesige Naturflächen zerstört. Noch vor Beginn der Bauarbeiten waren 50.000 Isländer zu Protestdemonstrationen auf die Straße gegangen.

Seit dieser Zeit sind die Gründe, zu protestieren, leider nicht weniger geworden. Den Finanzcrash kann man allerdings auch als Gelegenheit zu einem Neuanfang verstehen. Ganz allmählich lassen die Isländer all das was nicht richtig funktioniert hinter sich. Und das, was momentan bei Facebook diskutiert wird, ist nichts anderes als das Projekt eines neuen Landes. Eine neue Gelegenheit.

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