Klein-Russland wollte einmal auf eigenen Füßen stehen

Vor zwanzig Jahren stimmte die estländische Region Ida-Viru für ihre Unabhängigkeit. Heute haben die 146.000 mehrheitlich russischen Bewohner des Landkreises keine besonderen Forderungen mehr, schotten sich aber weiter vom Rest des Landes ab.

Veröffentlicht am 19 Juli 2013 um 09:25

„Was für ein Referendum? Nein, das wusste ich nicht“, wundert sich die (russischsprachige) Julia aus Narva, anlässlich des zwanzigsten Jahrestags des Referendums über die Unabhängigkeit ihrer Region Ida-Viru [auch Ost-Wierland auf Deutsch]. Dabei hatte damals das Ja [mit 54 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 52 Prozent] gesiegt, was die Verantwortlichen der noch jungen und wackeligen Republik beunruhigte.

Die Volksabstimmung war am 16. Und 17. Juli 1993 in drei Städten der Region durchgeführt worden: Narva, Kohtla-Järve und Sillamäe. Dem Ergebnis zum Trotz erklärte der Oberste Gerichtshof die Abstimmung für verfassungswidrig. Der Unabhängigkeitsbewegung ging daraufhin nach und nach die Puste aus. Das estländische Transnistrien [jene russischsprachige Region der Republik Moldau, welche ihre Unabhängigkeit erklärte, aber von keinem Land anerkannt wird] erblickte somit nicht das Licht der Welt.

Zu jener Zeit war die Situation verzwickt. Narva war eine Stadt, in der die blau-schwarz-weiße Flagge Estlands und die Statue Lenins nebeneinander existierten. „[[Die außerordentlichste Erfahrung, die ich je gemacht habe? Ich habe drei waschechte Kosaken getroffen]], die aus dem Büro des Gemeindevorsitzenden Wladimir Tšuikin kamen“, erzählt Rein Annik, 78, früher Chef der städtischen Elektrizitätswerke. Er kann sich noch erinnern, welche Angst ihm die kräftigen, bärtigen Männer mit ihrem Schwert am Gürtel eingejagt hatten. An jenem Tag hatte Tšuikin ihn gefragt, ob es möglich wäre, am geplanten Checkpoint zwischen der künftigen autonomen Region und der Republik Estland einige Baracken aufzubauen und diese mit Strom zu versorgen.

Ohne Rücksicht auf die russische Bevölkerung

Das Modell für die Befürworter der Autonomie war die prosowjetische und russischsprachige „Republik am Dnister“, die 1992 in der Republik Moldau ihre Unabhängigkeit erklärte. „Tšuikin kommt aus dieser Gegend. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, Wassermelonen von dort zu importieren — damals eine begehrte Rarität bei uns. Ich begriff rasch, dass es ihm um mehr ging als Wassermelonen“, erzählt Rein Annik.

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Der ehemalige Bürgermeister von Narva, Mihhail Stalnuhhin, glaubt, dass das Unabhängigkeitsreferendum einerseits der Versuch einer gewissen Elite von ehemaligen kommunistischen Funktionären war, sich an die Macht zu klammern und andererseits, Zeichen der tiefen Enttäuschung über die [nationalistische] Regierung von Maart Laar, die eine extrem strikte Staatsbürgerschaftspolitik umsetzte, welche die Mehrheit der Russen in Estland von der Staatsangehörigkeit ausschloss.

„Von Anfang an haben wir uns ausgeschlossen gefühlt“, erklärt Stalnuhhin, der selbst russischer Herkunft ist. Für ihn nahmen die ersten Gesetze der Republik Estland schlicht und einfach keine Rücksicht auf die russische Bevölkerung. „1991 gab es in Narva nur zwei estnische Lehrer mit Staatsexamen an unseren 15 Schulen mit ihren 13.000 Schülern. Die anderen Lehrer waren einfache Esten, ohne besondere Ausbildung. Wie kann man also dem [russischsprachigen] Normalbürger vorwerfen, dass er die estnische Sprache nicht beherrscht?“

Doch wie kommt es, dass heute in Narva wieder Ruhe eingekehrt ist? „Die gesetzlichen Rahmenbedingungen in Estland ermöglichen es uns heute, unsere Rechte geltend zu machen. Früher ging das nicht“, erklärt der Abgeordnete.

Ein Staat im Staat

Laut Rein Annik sind es die ersten konkreten Maßnahmen des estnischen Staats, die eine Befriedung der Region ermöglicht haben. Nur ein paar Monate nach dem Unabhängigkeitsreferendum wurde das Lenin-Denkmal vom Rathausplatz in den Museumshof umgesiedelt. Die Blumenmeere, die man Jahr für Jahr im April anlässlich des Geburtstags des Vaters der Revolution niedergelegte, wurden nach und nach immer kleiner.

Doch die Umverlegung des Lenin-Denkmals bedeutet keinesfalls den Sieg der estnischen Flagge. In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit gab es im Stadtrat zehn Vertreter estnischer Herkunft. Heute gibt es nur noch einen einzigen. Eine frustrierende Situation, findet Annik, für den der estnische Staat in der Gegend heute wesentlich weniger präsent ist als in den Neunzigerjahren. „Wer aus Narva kommt und russischer Herkunft ist, weiß nichts über den estnischen Staat oder über die Lage des Landes“, beteuert er. „Man sieht russisches Fernsehen, man kommuniziert mit der Familie, die auf der anderen Seite der Grenze in Russland verblieben ist. [[Es gibt nichts, das uns mit der Republik Restland verbindet]]. Man spricht Englisch, aber kein Estnisch, abgesehen von den Kindern, die die Sprache etwas beherrschen.“

Katri Raik, Direktorin einer weiterführenden Schule, stellt fest, dass angesichts der normalen Mobilität der Menschen [innerhalb des Landes] die Stadt Narva [dessen Bevölkerung zu 96 Prozent russisch ist] wie ein Staat in Staat wirkt. Niemand geht fort, niemand kommt her.

Laut Annik ist der Ort mit der größten Anziehungskraft in Narva das russische Konsulat, vor dem die Warteschlangen immer länger werden. Er findet, dass der Staat sich anders verhalten sollte. „Keiner unserer Ministerpräsidenten hat jemals irgendetwas getan, damit unsere Region estnischer wird. Man hat die Dinge einfach laufen lassen“, empört sich Annik.

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