Grundlage des tunesischen Textilsektors sind überwiegend weibliche und unterbezahlte Arbeitskräfte. | Foto: ©Arianna Poletti The Tunisian textile sector is built on a predominantly female and underpaid workforce. | Photo: © Arianna Poletti

Die Sozial- und Umweltkosten der europäischen Mode made in Tunesien

Tunesien ist das neuntgrößte Land, das Bekleidung in die EU exportiert: 82 % der Produktion gehen ins Ausland. Armani, Moncler und Lacoste sind nur einige der Marken, die sich dort niedergelassen haben, weil sie von den billigen Arbeitskräften angezogen wurden. Die Arbeitsrechte und die Umwelt leiden darunter.

Veröffentlicht am 8 November 2023 um 11:04
The Tunisian textile sector is built on a predominantly female and underpaid workforce. | Photo: © Arianna Poletti Grundlage des tunesischen Textilsektors sind überwiegend weibliche und unterbezahlte Arbeitskräfte. | Foto: ©Arianna Poletti

Die menschliche Produktionskette in der Tunicotex-Fabrik ist lang. In dieser Halle, die sich über fünf Hektar in einem Vorort der Stadt Slimane (Tunesien) auf der anderen Seite des Gebirges erstreckt, das den Horizont der Fenster von Tunis bildet, messen, nähen und verpacken die Hände von Tausenden von Textilarbeiter*innen – überwiegend Frauen.

Die bunten Garnrollen werden zunächst zu Stoffmustern verarbeitet, dann zu Pullovern für die Herbst-/Winterkollektion, die schließlich mit den Logos großer Marken verschönert werden: Armani, Moncler, Lacoste, Calvin Klein ...

Letzter Schritt: das Etikett. Zwei Frauen sitzen an einem Tresen und bringen den Barcode an, wobei sie ständig die gleiche mechanische Geste wiederholen. Die Tür steht offen, um die letzte Abendsonne hereinzulassen. Jedes Wochenende transportieren Lastwagen die Kleidungsstücke aus dem riesigen Lagerhaus zum Hafen von Radès in Tunis, von wo aus sie in die großen europäischen Häfen verschifft werden, um in französische, italienische, deutsche oder spanische Boutiquen zu gelangen. Für ihre Tätigkeit erhalten die Arbeiter*innen einen mageren Lohn von rund 600 Dinar im Monat (ca. 179 Euro).

„In Europa will niemand mehr diese Arbeit machen. Und wenn Tunesien ein reiches Land werden würde, würden wir hier vielleicht auch keine Arbeitskräfte finden“, erklärt Haithem Bouagila, Vorsitzender des tunesischen Textil- und Bekleidungsverbands (FTTH), der einen Teil der Arbeitgebenden vertritt. Er ist auch Direktor der Tunicotex-Fabrik, die wie die meisten Unternehmen in diesem Sektor über einen Offshore-Status verfügt.

Haithem Bouagila sitzt in seinem Büro, umgeben von den neuen Kreationen der Saison. Er zählt die Vorteile des tunesischen Marktes auf: „in der Nähe von Europa“ , „kostengünstiger Transport“, „lange Tradition in diesem Sektor“. Aber zu welchem Preis?

Bei der Auslagerung der „Fast Fashion“-Industrie denkt man sofort an Bangladesch oder China. Aber auch der Mittelmeerraum ist betroffen. „Ausländische Unternehmer wählen Tunesien wegen seiner billigen Arbeitskräfte, auf Kosten der sozialen und ökologischen Rechte“, fasst Mounir Hocine, Vorsitzender des Vereins le Forum tunisien pour les droits économiques et sociaux (FTDES) aus der Region Monastir im Nordosten des Landes, zusammen.


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Für die EU ist Tunesien nach Kambodscha das neuntgrößte Importland für Bekleidung, so eine Studie des tunesischen Centre technique du textile aus dem Jahr 2022. Mehr als 1.530 Unternehmen sind offiziell in der Region Monastir angesiedelt, was 31% der Industrie des Landes entspricht. 82% der Produktion geht ins Ausland. Der Sektor ist auf überwiegend weiblichen und unterbezahlten Arbeitskräften aufgebaut. Die Zahl der Arbeiterinnen, die beim FTDES um Rechtsbeistand bitten, weil sie sich ausgenutzt fühlen, nimmt ständig zu, bestätigt Mounir Hocine.

Das hat Meriem getan, nachdem sie ihren Job in der Fabrik verloren hatte. Sie hat ihre Nähmaschine am Ende des Eingangsflurs ihrer kleinen Erdgeschosswohnung in der Stadt Ksibet El-Mediouni, die nur wenige Kilometer von Monastir entfernt liegt, aufgestellt. Ihre Finger sind mit Pflastern bedeckt. Sie stellt hier nun Reinigungstücher her. Dieses Projekt wird vom FTDES, von Avocats sans frontières (ASF) und IWatch unterstützt, um die Wiedereingliederung von Arbeiterinnen in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten, die ohne Vorwarnung aus dem Geschäft gedrängt werden.

Meriem, qui s’est retrouvée au chômage à 40 ans, a installé sa machine à coudre dans son petit appartement. © Arianna Poletti
Meriem wurde mit 40 Jahren arbeitslos und hat ihre Nähmaschine in ihrer kleinen Wohnung aufgestellt. | Foto: ©Arianna Poletti

Der Grund hierfür ist sinkende Produktivität, oft aufgrund von Krankheit, eines Unfalls oder einfach des Alters. „Jüngere Hände sind schneller“, sagt Meriem, die mit 40 Jahren arbeitslos wurde. „Es hat eine Weile gedauert, bis meine Hände nach fünfzehn Jahren Arbeit nicht mehr steif waren“. Ihre Schwester, die von der Arbeit nach Hause kommt und noch eine grüne Schürze trägt, berichtet: „Meine Finger werden oft blau von den sich ständig wiederholenden Bewegungen.“

„Etwa 65 % dieser Frauen werden aufgrund ihres Berufs krank. Sie leiden vor allem an Muskel-Skelett-Erkrankungen“, erklärt Mounir Hocine. Seiner Meinung nach stellt die „Textilkrankheit“ eine große Belastung für den Staatshaushalt dar.

Als sie von einem Tag auf den anderen, mitten in der Covid-19-Krise, ihren Arbeitsplatz verlor, stellte Meriem fest, dass sie keine Rechte oder Verhandlungsmacht hatte. Die Sozialversicherungsbeiträge waren nicht in ihrem Vertrag enthalten. Ihre Fabrik, eine Garage in einem Vorort von Monastir, war nicht einmal angemeldet.

„Der Sektor funktioniert wie eine Matrjoschka“, bestätigt Habib Hazemi, Vorsitzender des allgemeinen Verbandes für Textilien, Bekleidung, Schuhe und Leder des tunesischen Gewerkschaftsdachverbands UGTT, in Anspielung auf die russischen Puppen, die ineinander geschachtelt werden. „Die Verantwortungskette zurückzuverfolgen ist sehr kompliziert, wenn nicht gar unmöglich“, bestätigt Adel Tekaya, Vorsitzender der Utica, dem anderen Zweig der Arbeitgebendenvertretung in Monastir.

Zumal eine Textilfabrik im Durchschnitt selten mehr als neun Jahre besteht: Nach Ablauf von zehn Jahren können die Unternehmen nicht mehr von den Steuervorteilen profitieren, die das tunesische Investitionsgesetz garantiert. „Sie verlagern ihre Aktivität erneut oder eröffnen unter einem anderen Namen neu. So wird niemand für die sozialen und ökologischen Schäden verantwortlich gemacht, die sie hinterlassen“, so Mounir Hocine vom FTDES.

Das weiß Fatima Ben Amor, die seit Jahren in der Zivilgesellschaft der Kleinstadt Ksibet El-Mediouni aktiv ist, ganz genau. Die junge Aktivistin, die nach der Revolution von 2011 aufgewachsen ist, setzt sich zusammen mit der Umweltschutzorganisation Association pour la protection de l’environnement de Ksibet (Apek) für die Entgiftung der Bucht südlich von Monastir ein. Dorthin leiten die Fabriken aus der Umgebung seit Jahren Schadstoffe und Chemikalien, die zum Färben von Jeans verwendet werden, wie Essigsäure, chemische Reinigungsmittel oder Wasserstoffperoxid.


La baie au sud de Monastir est polluée par le secteur. © Arianna Poletti / Reporterre
Die Bucht südlich von Monastir ist durch die Textilindustrie verschmutzt. | Foto: ©Arianna Poletti

Der Grund: der Prozess des Waschens von Jeans. Dieser „Stolz Tunesiens“, wie ihn einige Unternehmer in der Gegend nennen, ist durch Färbeprozesse mit vielen Chemikalien und einen massiven Wasserverbrauch gekennzeichnet: laut FDTES zwischen 55 und 72 Liter pro Jeans.

Im Jahr 2022 wurden 11 Millionen Paar Jeans in die EU exportiert, 85 % davon nach Durchlaufen des Waschprozesses.

Obwohl der Vorsitzende des FTTH versichert, dass „die großen Unternehmen in der Region über alle notwendigen Zertifizierungen und einen geschlossenen Kreislauf verfügen, der die Wiederverwendung des Wassers ermöglicht“, ist das Meer vor der Stadt Ksibet schlammig. Ein paar Boote schaukeln auf einer Decke aus grünen Algen. „Vor dreißig Jahren war dies eine Kinderstube für viele mediterrane Arten. Davon findet man heute keine mehr“, kommentiert ein anonymer Arbeiter im Hafen von Ksibet El-Mediouni.

Wie mehrere Fischer aus der Region bestätigten, sind viele Fische verendet. Auch die Bevölkerung ist betroffen: Laut der örtlichen Gemeinschaft nehmen Krebserkrankungen ständig zu, aber ein Krebsregister wurde nie eingerichtet. „Ob Menschen, Vegetation oder Tierwelt – hier lebt nichts mehr. Und wer profitiert davon?“, fragt die Aktivistin.

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