Ideen Lektionen aus dem Krieg | 2

Ist Europa überhaupt möglich?

In seinem Beitrag zur Reihe „Lektionen aus dem Krieg. Die Wiedergeburt Europas im Spiegel der Zeit“ argumentiert der schwedische Autor Göran Rosenberg, dass Europa mit einer föderalen Struktur besser in der Lage wäre, Entscheidungen zu treffen und sich in Krisensituationen wie dem Krieg in der Ukraine zu engagieren.

Veröffentlicht auf 14 September 2023 um 09:34
Dieser Artikel ist nur für Mitglieder von Voxeurop zugänglich

Die Europäische Union ist das Ergebnis von Kriegen: Von zwei Weltkriegen, die dem Europa, wie wir es kennen, beinahe ein Ende bereitet hätten. Eines kalten Krieges, der scheinbar für immer einen eisernen Vorhang durch Europa gezogen hatte. Der Nahtoderfahrung von Europa als Idee.

Denn Europa ist vor allem eine Idee: die Idee, dass die vielen Völker, Sprachen und Kulturen, die auf einer zerklüfteten Halbinsel am westlichen Rand der asiatischen Landmasse zusammengedrängt sind, eine gemeinsame Heimat und ein gemeinsames Schicksal teilen. Die Ballung zahlreicher Kulturen ist kein neues Merkmal Europas, sondern sein geopolitisches Dilemma und seine Herausforderung.

Viele Völker haben sich in Europa niedergelassen, manchmal auf den Ruinen anderer, aber Europa selbst hat es nicht geschafft, für irgendjemanden zur Heimat zu werden. Die Europäische Union ist ein Projekt geblieben, bei dem nur die konstituierenden Nationalstaaten in der Lage sind, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Loyalität zu vermitteln, wie es mit dem Begriff der Heimat verbunden ist.

Das hat sich gezeigt, als das Vereinigte Königreich seinen Austritt aus der Union vollzog und die Tür zuschlug. Die Entscheidung Großbritanniens führte zu Rufen nach weiteren EU-Austritten – Swexit, Italexit, Öxit, usw. Oder wie es der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer kürzlich formulierte: „Europa trägt in dieser historischen Situation des Umbaus der globalen Ordnung schwer an seinem besonderen Nachteil: Europa ist eine Konföderation souveräner Nationalstaaten, die selbst nach zwei Weltkriegen und einem Jahrzehnte währenden Kalten Krieg nebst der Teilung des Kontinents nicht die Kraft zur wirklichen Integration hatte. Es ist also keine wirkliche Macht, in einer Welt großer Machtstaaten keine einfache Rolle; zudem liegt es in einer schwierigen, gefährlichen geopolitischen Nachbarschaft.“

Vielleicht war es also an der Zeit, dass die vielen Nationen Europas wieder einmal an die geopolitischen Bedingungen für ihre Unabhängigkeit und Sicherheit erinnert werden. Das geschah am Morgen des 24. Februar 2022, als Vladimir Putins Russland seinen unprovozierten Angriffskrieg nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die Sicherheitsordnung begann, die die europäischen Nationen, Nato-Mitglieder und Nichtmitglieder gleichermaßen, als selbstverständlich erachtet hatten.

Verzweifelte Nationalstaaten

Seitdem ist nichts mehr selbstverständlich. Wir erleben eine Zeitenwende, wie es der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach dem massiven Angriff auf Kyiv formulierte. Wieder einmal wurden die europäischen Nationen brutal daran erinnert, dass sie vielleicht bald nichts mehr gemeinsam haben, wenn sie nicht in der Lage sind, das Gemeinsame zu bewahren – und wenn nötig zu verteidigen. Und wieder einmal könnte Europa zu einer Ansammlung ungleicher Nationalstaaten werden, von denen jeder einzelne zu klein und zu schwach ist, um sich in einer Welt zu behaupten, in der das Recht des Stärkeren gilt – einer Welt, zu der ein Sieg Putins die Tür öffnen würde.

Natürlich hat die Europäische Union ihre Schwächen und Mängel und leidet unter einem Demokratiedefizit. Aber sie ist bei weitem der demokratischste Versuch der vielen Nationen auf der europäischen Halbinsel, ein politisches Gemeinwesen für ihre gemeinsamen Probleme und Herausforderungen zu schaffen. Ohne ein übergreifendes europäisches politisches Gemeinwesen, so argumentierten seine ursprünglichen Architekten, würde sich erneut der alte, ausgetretene europäische Pfad zu Konflikt, Krieg und Selbstzerstörung auftun. Ihre Strategie bestand darin, eine gemeinsame Wirtschaftsunion zu schaffen, die den Boden bereiten sollte. Oder, wie es in der Präambel des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 heißt, „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“.

Diese Strategie war anfangs so erfolgreich, und so viele Nationen wollten in der Folge Teil der europäischen Gemeinschaft werden, dass man leicht vergaß, wie empfindlich und anfällig sie war. Anfällig für nationalistische Unzufriedenheit von innen. Anfällig für spaltenden Druck von außen. Verwundbar auch durch ihre sicherheitspolitische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, die erneut einen Präsidenten wählen könnten, der bereit wäre, das transatlantische Bündnis aufzulösen und die Europäer sich selbst zu überlassen.


Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

In dieser Hinsicht war die sofortige und intuitive Reaktion Europas auf den russischen Angriff vielversprechend. Das Engagement für die Sache der Ukraine war echt, ebenso wie die Bereitschaft, die potenziell schwerwiegenden Folgen einer schnellen Beendigung der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu ertragen. Die über Nacht getroffene Entscheidung von Schweden und Finnland, die Nato-Mitgliedschaft zu beantragen, war eine dramatische Umkehrung lange vertretener Positionen.

Habermas und Derrida und die inhärente Schwäche Europas

Es stimmt, dass Putins Krieg nicht sofort zu einer neuen Debatte über die Stärkung der Europäischen Union geführt hat. Aber offen EU-feindliche Parteien und Bewegungen (z. B. in Schweden und Italien) begannen,…

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema