Am 17. Oktober 2020 marschierten Zehntausende Menschen durch die Straßen von Paris, um „Gleichheit, einfach Gleichheit“ zu fordern. Mit anderen Worten die Gleichwertigkeit jener Frauen, Männer und Kinder, die im europäischen Jargon als „Drittstaatsangehörige ohne legalen Aufenthalt“ bezeichnet werden, die ihren offenen Brief an den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron allerdings als „die Teilnehmer des Aktes 3 der Papierlosen“ unterzeichnet haben. Macron weigerte sich, sie zu empfangen, zumal dies der Anerkennung ihrer Existenz gleichgekommen wäre.
In Frankreich, wie auch anderswo in der Europäischen Union, werden undokumentierte Migranten als eine Zahl angesehen, die reduziert werden muss (EU-weit sollen es zwischen 4 und 5 Millionen sein), wobei „illegale Migranten“ noch immer abgeschoben werden müssen. Selbst wenn sie schon seit Jahren hier leben oder in einem europäischen Land geboren sind. Wenn diese Menschen „nicht das Recht haben, zu bleiben“, muss alles getan werden, um sie zu vertreiben. Das ist das Leitmotiv der Europäischen Kommission.
„Fiktion der Nichteinreise“,
Das Migrations- und Asylpaket, das am 23. September vorgestellt wurde, bekräftigt diese Vision. Obwohl der Schwerpunkt auf den Menschen liegt, die an den EU-Außengrenzen ankommen, enthält das Paket mehrere Aspekte, welche die Plattform für internationale Zusammenarbeit zu undokumentierten Migranten (Picum) beunruhigt. In einer Stellungnahme kritisierte dieses Netzwerk von Organisationen den Vorschlag, das „obligatorische Screening“-Verfahren auf Personen auszudehnen, die sich bereits in der EU befinden, wenn „es keinen Beweis dafür gibt, dass sie eine Außengrenze berechtigterweise überschritten haben“. Dies würde zu einer Zunahme der Kontrollen von „Personen und Gemeinschaften“ führen, „die bereits diskriminierenden Polizeipraktiken ausgesetzt sind“.
Ein weiterer beunruhigender Aspekt ist die „Fiktion der Nichteinreise“, ein in Deutschland geborenes Konzept, das seinen Weg - dank der Berliner Lobbyarbeit - in einen Gemeinschaftstext gefunden hat. Das Paket legt fest, dass Personen „nicht in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen dürfen“, während die Überprüfungsverfahren an den Grenzen durchgeführt und die Anträge auf internationalen Schutz bearbeitet werden. Für Tage, Wochen, sogar Monate oder Jahre kann sich eine Person also physisch im EU-Gebiet aufhalten, ohne „legal“ eingereist zu sein. Die Forscherin Kelly Soderstrom erinnert an die Geschichte dieses Konzepts, das ursprünglich auf die Transitzonen von Flughäfen angewandt wurde, und weist darauf hin, dass die Trennung von physischer und legaler Ankunft die Grenzen extrem flexibel macht. Andere Forscher heben wiederum hervor, dass Hotspots zu einer „entscheidenden Trennung der Verbindung zwischen Territorium und Rechten“ geführt haben.
Auf dieser Verbindung bauen die Aktivisten für Papierlose ihre Forderungen auf, und führen ihren Kampf sowohl auf lokaler als auch auf europäischer Ebene. Der seit 2012 in Belgien lebende Abdul-Azim Azad ist Mitglied des afghanischen Kollektivs und einer der ersten undokumentierten Migranten, die als Lobbyisten im Europäischen Parlament akkreditiert wurden. Die Idee eines europäischen Vertreters für Papierlose wurde 2017 vom Verein Maison du peuple d'Europe ins Leben gerufen, und von der Coordination des sans-papiers de Belgique gutgeheißen. Sie ermöglichte die Wahl von Abdul-Azim und einem weiteren Aktivisten, Mamadou Diallo, die 2018 und 2019 an den Europäischen Migrationsforen teilnahmen. Die noch in den Kinderschuhen steckende Initiative erinnert insbesondere daran, dass undokumentierte Migranten „eigenständige politische Subjekte“ sind und dass sie „Zugang zur Regularisierungsverfahren“ haben sollten, zumal sie sich bereits in Europa aufhalten und am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben der europäischen Länder teilnehmen“.
Diese Argumentation widerspricht der Logik der Kommission und der Mitgliedstaaten, für die nur „echte Flüchtlinge“ ein europäisches Aufenthaltsrecht haben, während der einzige Ausweg für „Scheinflüchtlinge“ und „Wirtschaftsmigranten“ die Abschiebung ist. Die belgische Coordination des sans-papiers lehnt diese Unterscheidung ab und hat kürzlich ihre Forderung nach Regularisierungsverfahren erneuert, zumal sie in diesen Zeiten der Gesundheitskrise umso dringlicher ist. Diese Forderung wird von allen Bewegungen für undokumentierte Migranten in Europa geteilt. Sie arbeiten in Netzwerken wie der Internationalen Koalition der undokumentierten Migranten (die im April 2020 einen diesbezüglichen Brief an die europäischen Institutionen geschickt hat), der Transnationalen Migranten-Koordination (die den internationalen Mobilisierungstag am 17. Oktober 2020 initiierte) oder der Kampagne Papiere für alle zusammen.
Für Tage, Wochen, sogar Monate oder Jahre kann sich eine Person also physisch im EU-Gebiet aufhalten, ohne „legal“ eingereist zu sein.
Allerdings finden konkrete Aktionen und Veränderungen vor allem auf lokaler Ebene statt. Örtliche Behörden können ihren Beitrag leisten, betont Michele LeVoy, Direktorin von Picum: „Mehrere Städte in Europa bieten Papierlosen im Gegensatz zur nationalen Politik Zugang zu bestimmten Dienstleistungen, oder unterstützen Organisationen, die diese Dienstleistungen anbieten“. Mariema Faye, Mitglied des in Neapel sehr aktiven Movimento Migranti e Rifugiati Napoli (MMRN), ist ebenfalls davon überzeugt, dass „der Wandel von unten kommen wird, denn dort sieht man die Auswirkungen der Gesetze auf das Leben der Menschen“.
Die MMRN, die 2016 gegründet wurde und mit der politischen Bewegung Potere al popolo verbunden ist, bringt italienische Aktivisten wie Mariema und Papierlose zusammen. Eine ihrer jüngsten Zielscheiben war die „sanatoria truffa“, die „lügnerische“ Regularisierungs-Kampagne, die von der italienischen Regierung im Mai 2020 ins Leben gerufen wurde. Diese erwies sich „als ineffizient“, „stachelte die Gegensätze zwischen Gastarbeitern an“, und „führte zu einem Handel mit ungültigen Arbeitsverträgen“, prangert Mariema an. „Der Staat hat ein Interesse daran, dass diese Arbeiter unsichtbar bleiben: So kann er sie ausbeuten und ist ihnen nichts schuldig“.
„Die Aktivistenbewegungen für Papierlose können die Debatte beeinflussen, insbesondere in Bezug auf faire Arbeitsbedingungen“, versichert LeVoy und führt das Beispiel der Bewegung der undokumentierten Landarbeiter in Florida an. Diesseits des Atlantiks könnte die Reform der Europäischen Agrarpolitik die Arbeitsbedingungen von papierlosen Landarbeitern verbessern, wenn die europäischen Subventionen endlich von der Einhaltung der Arbeitnehmerrechte abhängig gemacht würden. „Die Arbeitnehmer müssen allerdings erst einmal in der Lage sein, Beschwerden einzureichen, ohne dass ihre Daten an die Einwanderungsbehörden weitergegeben werden“, stellt LeVoy fest.
„Unsere Positionen sind nicht radikal. Wir fordern das Minimum: Rechte und Möglichkeiten für alle“, meint Mariema. An dem Tag, an dem dies zum Minimum wird, werden undokumentierte Migranten ihren Kampf gewonnen haben.
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👉 Lesen Sie auch unsere Serie über die "Europa Träumer", junge Menschen ohne Papiere, Visum oder Nationalität im Zeitalter des Coronavirus, die in Zusammenarbeit mit Lighthouse Reports und dem Guardian entstanden ist.

In Zusammenarbeit mit der Heinrich Böll Stiftung – Paris
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