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Paris und Berlin spielen Brüssel zu

Der Wettbewerbspakt ist weniger ein deutsch-französischer Versuch, die Macht in der EU an sich zu reißen, sondern vielmehr ein Schritt in Richtung föderales Europa, urteilt Times-Kolumnist Anatole Kaletsky. Der Entwurf einer Wirtschaftsregierung wird deshalb auch die Folgen der Finanzkrise nicht mildern können.

Veröffentlicht am 9 Februar 2011 um 15:44

Nach bisherigen Informationen schien David Cameron beim EU-Gipfel am vergangenen Freitag nichts gegen das deutsch-französische Vorhaben gehabt zu haben, ein föderales Europa zu schaffen. Den offiziell „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ benannten Plan beschrieben Präsident Sarkozy und Kanzlerin Merkel stolz als den schon lange ausstehenden Entwurf einer „Europäischen Wirtschaftsregierung“. Ihr Ziel sei es, sechs äußerst umstrittene Bereiche der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik der Länder der Eurozone aufeinander abzustimmen: Unternehmenssteuern, Altersversorgungssysteme, Lohnverhandlungen, Bildungsabschlüsse, Staatsschuldbegrenzungen und Kontrollregelungen für angeschlagenen Banken.

Bedenkt man Camerons euroskeptischen Hintergrund, so ist es schon überraschend, dass er sich so gar nicht dagegen gewehrt hat. Warum nimmt die britische Regierung diesen gewaltigen Schritt der EU auf dem Weg zu einer kompletten föderalen Eigenstaatlichkeit anscheinend so gelassen hin? Folgende falsche historische Vorstellung könnte eine Antwort darauf geben: Es herrscht der Glauben, dass der Vormarsch des Wirtschaftsföderalismus lediglich eine unvermeidbare ad hoc-Reaktion auf die Finanzkrisen in Griechenland, Irland und Spanien sei, die von der Kreditkrise 2008 ausgelöst wurden.

Der Pakt hat nichts mit der Eurokrise zu tun

Whitehall hofft, dass dieses Zentralisierungsprogramm – wenn dieKrise erst einmal vorbei ist – nach und nach in Vergessenheit geraten, oder sogar rückgängig gemacht wird. Viel wahrscheinlicher ist allerdings das ganze Gegenteil. Die neuen Institutionen und Abkommen, welche die Eurokrise hervorgebracht hat, werden bleibende Bestandteile der europäischen politischen Landschaft werden und sich fortwährend in Richtung einer föderalen Regierung entwickeln. Diese sahen schon Jacques Delors, Helmut Kohl und Margaret Thatcher als unvermeidbare Folge der europäischen Entscheidung, eine Einheitswährung und eine Währungsunion zu schaffen.

Der neue Plan veranschaulicht diesen Prozess sehr gut. Die empfohlene Harmonisierung von Steuer-, Arbeits- und Rentenpolitik steht in keinem direkten Zusammenhang zur Eurokrise. Auch wird sie nicht dazu beitragen, Griechenland oder Irland zu mehr Kreditwürdigkeit zu verhelfen. Im Gegenteil: Irland würde unter Kapitalabfluss und Arbeitskraftabwanderung leiden, wenn es gezwungen wäre, seine Steuersätze denen Deutschlands und Frankreichs anzugleichen. Die europaweite Zentralisierung der Lohnverhandlungen würde einen Mechanismus schaffen, der die hohen Löhne und Sozialabgaben in Deutschland und Frankreich schützen würde, anstatt den armen Ländern – dank ihrer billigen Arbeitskräfte – zu mehr Wettbewerbsfähigkeit zu verhelfen. Kurzum zielten die Vorschläge der vergangenen Woche nicht so sehr darauf ab, die Eurokrise zu lösen. Vielmehr ging es darum, diese dazu zu nutzen, dem seit Jahren auf dem Abstellgleis stehenden euroföderalistischen Projekt neues Leben einzuhauchen.

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Deutschland will föderales Europa durchdrücken

Ganz besonders Deutschland sah in der Krise eine ideale Gelegenheit, sich für seine Vision eines föderalen Europas einzusetzen. Darin wären alle Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, die strengen Haushaltsregeln einzuhalten und die Lohnverhandlungen zu zentralisieren. Sie müssten aber auch ein großzügiges soziales Netz anbieten und die bereits relativ hohen Steuern anheben, um dies zu finanzieren. In mancherlei Hinsicht handelt es sich um ein attraktives Modell. Jedoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass es in den ärmeren und weniger gut organisierten Ländern Süd- und Mittel-Europas funktionieren würde.

Auch wenn Deutschland gegenwärtig die Oberhand hat, werden die Machtverhältnisse sich – sobald man die Eurokrise in den Griff bekommen hat – schnell verschieben. Wenn Deutschland erst einmal die unwiderruflichen finanziellen Garantien für die Schulden anderer Euro-Länder akzeptiert hat, werden die politischen Bedingungen, die es als Gegenleistung aufstellte, zweifellos an Gewicht verlieren. Ziemlich sicher ist beispielsweise, dass man die vermeintlich „automatischen“ Strafen für Verstöße gegen die Haushalts-Regeln (die als Gegenleistung für finanzielle Garantien an Deutschland gehen würden) dann schnell ignorieren würde. Genauso wie die „Nicht-Rettungs-Klausel“, laut der kein Mitglied der Eurozone jemals die Schulden eines anderen garantieren sollte.

Das Zwei-Klassen-Europa steht vor der Tür

Ähnlich ergehen würde es höchstwahrscheinlich der deutschen Forderung nach einer europaweiten Harmonisierung, die nicht so sehr auf den EU-Kommissaren in Brüssel aufbaut, sondern zunehmend von nationalen Spitzenpolitikern und Gipfeln getragen würde. Allein die Kommission ist dazu fähig, zwischenstaatliche Beschlüsse durchzusetzen. Und alles in der Geschichte der EU deutet darauf hin, dass sie bald die volle Kontrolle übernehmen wird. Zudem ist es den anderen Mitgliedern der Eurozone ausgesprochen wichtig, nicht von Deutschland oder einem deutsch-französischen Direktorium regiert zu werden. Wenn Deutschland erst einmal den unwiderruflichen Garantien für die Euro-Finanzstabilität zugestimmt und so sein Veto-Recht verloren hat, werden sie dafür sorgen, dass die Hauptaufgaben der „Wirtschaftsregierung“ schnellstens wieder an die Kommission gehen werden.

Was uns zurück zur britischen Position bringt: Die britische Regierung findet den deutschen Hang zu zwischenstaatlichen Mechanismen sehr beruhigend und sorgt sich keineswegs um die Entwicklungen innerhalb der Eurozone. Jedoch ist es eine Illusion zu glauben, dass Großbritannien eine tiefere Integration vermeiden kann. Wenn sich die 17 Mitgliedsstaaten der Eurozone unaufhaltsam in Richtung einer wirtschaftlichen und politischen Union entwickeln, werden die Interessen dieses geschlossenen Blocks alle EU-Institutionen zunehmend bestimmen.

Die Länder außerhalb der Eurozone – allen voran Großbritannien – werden dann mit einem Zwei-Klassen-Europa klarkommen müssen: Einem vollintegrierten föderalen Kern und einem darum liegenden, viel lockereren Bündnis von Handelspartnern. Für diese Idee eines lockereren Europas spricht veles. Jedoch kämpfen die aufeinanderfolgenden britischen Regierungen seit Jahrzehnten dagegen an. Das ist nun eine Tatsache.

Aus dem Englischen von Julia Heinemann

Aus Sicht Belgiens

Angela Merkel hat recht

„Niemand tut mehr für uns als Angela Merkel“, versichert Bart Sturtewagen, Chefredakteur der Tageszeitung De Standaard. Er kann nicht nachvollziehen, warum die deutsche Kanzlerin für ihren Wettbewerbspakt so heftig kritisiert wird. „Deutschland ist es zu danken, dass sich die belgische Wirtschaft bereits wieder erholt“, meint der Publizist. Ohne „Merkels unnachgiebige Position“ hätten die Finanzmärkte noch mehr gegen den Euro spekuliert. „Der Leitzins sinkt nicht nur in Deutschland, sondern auch in schwächeren Ländern wie Belgien, die zusätzliche Zinsen zahlen müssen, die sogenannte Geld-Brief-Spanne oder Spread.“ Bart Sturtewagen teilt nicht die Kritik mancher Ökonomen, für die „Merkels Deutschland hart und egoistisch“ auftritt. „Deutschlands Wohlstand muss allen zugute kommen, doch kann das nur geschehen, wenn alle Länder der Eurozone beweisen, dass sie bereit sind, ihren Teil der Arbeit zu leisten.“ „Ohne politische Konvergenz“ schließt der Journalist seinen Kommentar, „kann das Projekt nicht dauerhaft überleben.“

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