Ist der Aufstieg der extremen Rechten in Europa unvermeidlich?

Jeden Monat nehmen wir in Zusammenarbeit mit Display Europe die europäische Berichterstattung unter dem Gesichtspunkt der Freiheiten und der Demokratie unter die Lupe. Sechs Monate vor der Europawahl hat der Aufstieg der extremen Rechten in der Politik einen Wendepunkt erreicht: Die Themen, die seit 25 Jahren von der radikalen Rechten vertreten werden, allen voran die Einwanderung, haben die gesamte öffentliche Debatte erobert.

Veröffentlicht am 16 November 2023 um 11:37

Der Aufstieg der extremen Rechten im europäischen politischen Spektrum ist nicht neu; seit den 2000er Jahren beschleunigt er sich. Doch die Verankerung der rechtsextremen Formationen in den kontinentweiten Debatten zieht in den letzten Wochen die Aufmerksamkeit mehrerer Medien und politischer Analyst*innen auf sich. In dem „neuen Zyklus, der sich abzeichnet“ könnte die laufende Neuzusammensetzung der politischen Landschaft durchaus „die politischen Gleichgewichte der Union bei der Europawahl im Juni 2024“ beeinflussen, analysieren die Forscher Gilles Ivaldi und Andreu Torner in The Conversation (FR). 

Das wohl emblematischste Beispiel ist die Rassemblement National (RN) in Frankreich: Mit 28 % der Wahlabsichten laut der letzten Umfrage des Instituts Ifop vom 17. Oktober hat die RN im Vergleich zur letzten Umfrage vom August um 3 Punkte zugelegt und „vergrößert die Kluft zu ihren Konkurrenten“, berichtet Davide Basso in Euractiv (FR). Er erinnert daran, dass „bei den Wahlen 2019 die RN und die Präsidentenpartei (La République en Marche, jetzt Renaissance) Kopf an Kopf lagen, während der Abstand heute acht Punkte [beträgt]“. Der politische Journalist leitet daraus ab, dass „angesichts des Absturzes ihres Verbündeten Matteo Salvini in Italien, die RN die Führung der Fraktion Identität und Demokratie (ID) übernehmen könnte, die die euroskeptische extreme Rechte im Europäischen Parlament vereint.“

Ein wichtiger Punkt ist zweifellos, dass sich die extreme Rechte in der politischen Landschaft Portugals etabliert hat, das lange als Ausnahme galt. Die Partei Chega, die erst Anfang 2019 entstand und im Januar 2022 ins Parlament einzog, hat sich wenige Monate vor den vorgezogenen Wahlen am 10. März nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Antonio Costa als drittstärkste Kraft im Land etabliert.

In Schweden hat sich der politische Diskurs gegen Einwanderer verschärft, seit die rechtsextreme Partei Schwedendemokraten bei den Parlamentswahlen 2022 zur zweitstärksten Kraft aufgestiegen ist. Die Kolumnistin Ann-Sophie Hermansson, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und ehemalige Bürgermeisterin von Göteborg, der zweitgrößten Stadt des Landes, vertritt in der Göteborgs-Posten die Ansicht, dass das Problem des zunehmenden Islamismus in Schweden nicht rechtzeitig angegangen worden sei.

In Deutschland lag die AfD bei den Landtagswahlen am 8. Oktober vor den drei Parteien der Regierungskoalition und bestätigte nach früheren Erfolgen in Thüringen ihre Verankerung in Bayern, berichtet die TAZ.

In Spanien spielt die rechtsextreme Partei Vox, die im September dank eines Koalitionsabkommens mit der Partido Popular (PP) in der Region Murcia in die Regierung einer fünften Region einzog, eine zunehmend prägnante Rolle als politischer Agitator, analysiert El Confidencial.


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‚Hat die Sozialdemokratie noch eine Zukunft?‘, fragt der Forscher Paolo Gerbaudo in der italienischen Zeitschrift für politische und soziale Analyse Il Mulino. Laut einer Studie von Giacomo Benedetto, Simone Hix und Nicola Mastrorocco, die in dem Artikel zitiert wird, „verfügten die sozialdemokratischen Parteien Europas im Durchschnitt über mehr als 40 Prozent der Stimmen. Inzwischen ist der Anteil jedoch auf 20 Prozent geschrumpft. Der relative Erfolg der spanischen PSOE sollte angesichts dieses düsteren Gesamtbildes nicht in die Irre führen“. Jetzt steht zu befürchten, dass „die nächste Europawahl eine weitere Niederlage markiert, vor allem angesichts der verzweifelten Lage der SPD in Deutschland“. Dennoch sieht der Forscher einen möglichen „Richtungswechsel vom Nicht-Interventionismus des Staates und der Doktrin des selbstregulierten Marktes der neoliberalen Phase“ mit der Rückkehr von „Umverteilungsforderungen, Streiks für höhere Löhne sowie Formen der Industriepolitik, die darauf abzielen, politisch zu bestimmen, was die Länder produzieren sollen, insbesondere zum Zwecke des ökologischen Übergangs“.

In Polen führten die Ergebnisse der Parlamentswahlen am 15. Oktober zum Sieg der Opposition, die vom ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk angeführt wurde, und beendeten die achtjährige Herrschaft der PiS. „Wir haben wieder Hoffnung“, freute sich der Kolumnist Michael Sutowski in der linken Zeitschrift Krytyka Polityczna (PL) am Wahlabend. Als eine der großen vorrangigen Baustellen für die neue Regierung sieht er die durch die Politik der PiS unterminierten Schulen und das Bildungswesen. 

Unterdessen zeigen die französischen Wirtschaftswissenschaftler*innen Julia Cagé und Thomas Piketty, Autor*innen von „Une histoire du conflit politique. Elections et inégalités sociales en France. 1789-2022“ in The Guardian (EN), warum der Rechtsruck in Europa nicht unvermeidlich ist. Die linken Parteien müssen aufhören, sich in der Migrationsfrage zu verlieren, einer „politischen Einbahnstraße“, mit der sie versuchen, die verlorenen Wähler*innen der unteren Klassen zurückzugewinnen.

Die Integration der von den rechtsextremen Parteien getragenen Politik ist in der Tat keine erfolgreiche Strategie für die sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften, bestätigen Daphne Halikiopoulou und Tim Vlandas in einer Studie für das ETUI (Europäisches Gewerkschaftsinstitut) mit dem Titel „Wie man der ausgrenzenden Politik der extremen Rechten eine progressive, integrative Agenda zur Gleichstellung entgegensetzen kann“ (EN), die zu dem Schluss kommt, dass die linken Parteien anders als mit den Methoden der extremen Rechten auf die Unsicherheit reagieren sollten.


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