Presseschau (Un)Gleichheit

Obwohl die Armut in Europa stetig zunimmt, werden die Reichen (noch) nicht zur Kasse gebeten

Jeden Monat veröffentlichen wir einen in Zusammenarbeit mit Display Europe erstellten Bericht, der die Geschichte der europäischen Gesellschaft durch den Filter der Ungleichheiten, des Geschlechts, des Einkommens, der Behandlung, der Arbeit usw. erzählt. Wir beginnen mit der ständig wachsenden Armut der europäischen Bevölkerung, die im Griff der hohen Lebenshaltungskosten gefangen ist. In einem System, in dem die Sozialleistungen fast überall strukturell gekürzt werden, wären Steuern eine Lösung.

Veröffentlicht am 10 Oktober 2023 um 13:45

Eine Umfrage des französischen Umfrageinstituts Ipsos von Anfang September, an der 10.000 Personen in Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, Polen, im Vereinigten Königreich, in Portugal, Moldawien und Serbien teilnahmen, zeigt, dass die Europäer eine schwierige Zeit durchmachen. 

Für 55 Prozent der Befragten hat die Kaufkraft in den letzten drei Jahren abgenommen. Als Hauptursache werden – wenig überraschend – die Preissteigerungen genannt. Ein Drittel der Befragten bezeichnen ihre Lebenssituation als prekär (im Durchschnitt 29 Prozent, in Griechenland und Moldawien jeweils fast 50 Prozent). Dreißig Prozent geben an, dass sie bereits eine Mahlzeit ausgelassen haben, ein Drittel sagt, dass das Gehalt, das sie erhalten, nicht mehr ausreicht. Eurostat bestätigt diesen Trend: Im Jahr 2022 waren 95,3 Millionen Menschen in der EU von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, das sind 21,6 Prozent der Bevölkerung.

Das arbeitende Europa in all seinen Formen, vom klassischen Lohnempfänger bis hin zu Menschen, die hybriden und prekären Formen der Arbeit nachgehen, wird immer ärmer.

Im Gegenteil, eine von der französischen Monatszeitschrift Alternatives Economiques analysierte OECD-Studie erklärt, dass Arbeit höher besteuert wird als Kapital: Mit Ausnahme von nur drei Ländern (Schweiz, Spanien und Kolumbien) ist es überall auf der Welt aus steuerlicher Sicht interessanter, Dividenden zu verdienen als Löhne. Und zufälligerweise befinden wir uns in einer Zeit, in der sich die Dividenden hervorragend entwickeln: der Gesamtbetrag der von den 1.200 weltgrößten börsennotierten Unternehmen im zweiten Quartal 2023 ausgeschütteten Dividenden beläuft sich auf 568,1 Milliarden Dollar – ein Wachstum von 4,9 Prozent gegenüber 2022 (Daten von Janus Henderson für den Zeitraum April-Juni, berichtet von Libération).

Ist eine höhere und bessere Besteuerung des Kapitals also eine mögliche Lösung, um auf die Krise zu reagieren?

Ein Vorschlag kommt von der Fraktion der Grünen/EFA im Europäischen Parlament, die am 15. September einen Bericht „Tax the rich: From slogan to reality“ (Besteuerung der Reichen: Vom Slogan zur Realität) veröffentlicht hat, der in Zusammenarbeit mit der Nichtregierungsorganisation Tax Justice Network auf der Grundlage von Daten der World Inequality Database erstellt wurde: Eine „moderate und progressive“ Vermögenssteuer, die die reichsten 0,5 Prozent jedes europäischen Landes betrifft, würde über 213 Milliarden Euro an Mehrwertsteuereinnahmen pro Jahr einbringen. Laut der französischen Tageszeitung Le Monde besitzen diese „0,5 Prozent der Bevölkerung etwa 20 Prozent des europäischen Reichtums, verglichen mit 3,5 Prozent der weniger wohlhabenden Hälfte. Dieser Reichtum hat in zehn Jahren um 35 Prozent zugenommen“.

In die gleiche Richtung geht eine europäische Bürgerinitiative, die von dem belgischen Sozialisten Paul Magnette und der französischen Sozialistin Aurore Lalucq initiiert und von der Europäischen Kommission angenommen wurde. Am 9. Oktober wurde die Unterschriftensammlung für diese Steuer auf große Vermögen zur Finanzierung des ökologischen und sozialen Übergangs und der Entwicklungszusammenarbeit eröffnet.

Nach Ansicht der Europäischen Zentralbank dürfte der ökologische Übergang teuer werden – sehr teuer. Vor allem für die Bürger: Im schlimmsten Fall könnten die Energierechnungen um 5 bis 50 Prozent steigen.

Die Besteuerung von Reichtum klingt kompliziert, ist aber durchaus möglich.

Spanien hat den Tanz eröffnet: Wie die Agentur EFE berichtet, soll dort eine „Solidaritätssteuer“ auf Vermögen in Höhe von mindestens 3 Millionen Euro erhoben werden. Diese Maßnahme wird von einer Erhöhung der Kapitalertragssteuer begleitet, und parallel dazu von einer Anhebung der Steuerschwellen für niedrigere Einkommen.


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ECF, Display Europe, European Union

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