Interview Pressefreiheit

Rebecca Harms: „Freie und nicht vom Staat beeinflusste Medien schaffen die Grundlagen für demokratische Meinungsbildung”

Während die Europawahlen näher rücken und Journalisten in der Ukraine und in Gaza ihre Arbeit unter lebensgefährlichen Umständen fortsetzen, ist die Frage der Pressefreiheit wichtiger denn je. Die Vizepräsidentin des Europäisches Zentrum für Presse- und Medienfreiheit Rebecca Harms schildert ihre Sicht der Dinge.

Veröffentlicht am 2 Mai 2024 um 08:46
Rebecca Harms | ECPMF

Rebecca Harms war von 2004 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und bis 2016 Fraktionsvorsitzende der Grünen/Europäischen Freien Allianz (EFA). Heute ist sie Vizevorsitzende des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF), welches das Projekt Voices of Ukraine zur Unterstützung ukrainischer Journalisten und Medien leitet, an dem Voxeurop als Partner beteiligt ist.

Wie schätzen Sie die aktuelle Situation der Pressefreiheit in Europa ein, auch im Hinblick auf Ihre Rolle in der ECPMF und die ECPMF selbst? 

Als EU-Politikerin habe ich über Jahre hinweg mit meinen Kolleg*innen im Europäischen Parlament viele Interventionen und Initiativen gestartet, um Journalist*innen und Medien bei ihrer Arbeit zu schützen und zu verteidigen. Das Europäische Parlament unterstützte 2015 die Gründung des ECPMF, weil wir dem wachsenden politischen Druck auf Journalist*innen und Medien etwas entgegensetzen wollten. In Ungarn und Polen erlebten wir, wie Regierungen Medien gleichschalteten. Auf Malta und in der Slowakei wurden die Journalist*innen Daphne Caruana Galizia und Jan Kuziak ermordet. Die Türkei, mit der die EU Beitrittsverhandlungen führte, verwandelte sich in das weltweit größte Gefängnis für Journalist*innen. Zuerst war es Viviane Reding und heute ist es Vera Jourova, die als  zuständige Kommissarin die Initiativen aus dem Europäischen Parlament politisch aufgreift.

Mit dem European Media Freedom Act, der in der jetzt zu Ende gehenden Legislatur erstritten wurde, gelingt nach über einem Jahrzehnt der politischen Auseinandersetzungen ein großer Schritt, der helfen kann, die Freiheit der Medien und die unabhängige Arbeit von Journalist*innen in allen EU Ländern besser zu schützen. Der EMFA wirkt sogar schon über die EU hinaus, denn in den Vorbereitungen auf  Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, Moldowien und Georgien sind Presse- und Medienfreiheit eine Priorität. 

Wie wichtig ist Pressefreiheit für Demokratien und eine funktionierende Europäische Union, und warum?

Freie und nicht vom Staat beeinflusste Medien schaffen die Grundlagen für demokratische Meinungsbildung. Journalist*innen stärken mit ihrer Arbeit das Wissen und die Rolle der Bürger*innen in repräsentativen Demokratien, ermöglichen Politiker*innen, ihre Ziele und politischen Entscheidungen darzustellen und auch kontrovers zu diskutieren. Guter Journalismus fördert verantwortliche Meinungsbildung zu allen Themen. Wichtig ist die demokratische Verfasstheit der Medien. Transparenz und eine staatsferne Aufsicht muss es für öffentlich-rechtliche und für private Medien geben. Qualität, Unabhängigkeit und Fairness bei der Berichterstattung vor Wahlen ist besonders wichtig : Bürger*innen wählen Parteien und Politiker*innen, die weitreichende Entscheidungen in ihrem Namen treffen können.

Sind europäische Nachrichten und paneuropäische Medien im Vorfeld der Europawahlen wichtig für unsere Demokratien, und welche Rolle sollten sie spielen? 

Für qualitative, warhaftig europäische Debatten über das, was in den Institutionen in Brüssel diskutiert und entschieden wird, wären paneuropäische Medien sicher gut. Auch über das, was in den Mitgliedstaaten, die sich ja politisch und gesellschaftlich nicht gleichzeitig entwickeln, passiert, gibt es kaum zeitnahen Austausch in der EU. Dass wir dazu auch noch mehr als 27 verschiedene Sprachen sprechen, macht es nicht einfacher. Ich denke immer noch, dass die EU ein öffentlich-rechtliches System braucht, angepasst an die heutigen technischen und finanziellen Möglichkeiten, aber auch der Notwendigkeit angemessen. 

Wir wurden schon vor mehr als einem Jahrzehnt damit konfrontiert, dass sich die Entwicklung der sogenannten sozialen Medien nicht positiv auf demokratische Prozesse auswirkt. Heute sehen wir die Folgen der ideologisch begründeten Weigerung, das Netz zu regulieren oder es zumindest zu versuchen. Der Raum der Freiheit, das oft angepriesene globale Dorf dank des weltweiten Netzes, ging einher mit unbegrenzten Möglichkeiten, jede Form von Propaganda und Unwahrheit zu verbreiten. Gerade auch gegen europäische Institutionen kursieren massenhaft Un- und Halbwahrheiten, die von Bürger*innen schwer zu prüfen sind, weil Brüssel weit weg ist oder zumindest weit weg erscheint. Angesichts der schieren Masse an Information und der ungeheuren Dimension von Desinformation, bin ich heute oft ziemlich ratlos. 

Sollten paneuropäische Medien angesichts des Krieges in der Ukraine und der Situation, in der sich Medien und Journalisten dort und in anderen postsowjetischen Ländern wie Belarus, Moldawien oder Georgien befinden, eine besondere Rolle spielen? 

Als zweite Vorsitzende des ECPMF habe ich seit meiner Wahl versucht, Journalist*innen und Medien in Osteuropa zu unterstützen. Übrigens ist es falsch, diese Länder alle mit dem Label postsowjetisch zu versehen. Gerade die Entwicklung in den Medien und im Journalismus ist ein Ausdruck davon, wie weit sich die Staaten und Gesellschaften seit der Unabhängigkeit verändert haben. Journalist*innen sind mit ihrer Arbeit auch treibende Kräfte der Demokratisierung und des Aufbruchs in die Europäische Union. 

Nach der gefälschten Wahl in Belarus und angesichts der Massenproteste gegen den Wahlfälscher Lukaschenko wurden auch Journalist*innen zum Ziel von Drohungen und politischer Verfolgung. Einerseits mussten die Verfolgten oder Eingekerkerten geschützt werden, was nicht einfach war. Andererseits mussten ihre Stimmen im Westen Gehör finden. Die Veröffentlichung von Arbeiten der Kolleg*innen aus Belarus in westlichen Medien hielt ich für selbstverständlich; stellte aber fest, dass es zwar Solidarität gibt, aber weiterhin sehr hohe Hürden und wenig Respekt oder Neugier für ihre Arbeit. 

Mit dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 hat sich auch meine Arbeit im ECPMF verändert. Während viele Journaliste*innen Belarus und Russland verließen, setzten die meisten ukrainischen Medien und Journalist*innen ihre Arbeit unter Kriegsbedingungen fort. Im Rahmen der Hannah Arendt Initiative wurde das Projekt Voices of Ukraine zu einem Schwerpunkt des ECPMF.


Journalist*innen sind mit ihrer Arbeit auch treibende Kräfte der Demokratisierung und des Aufbruchs in die Europäische Union


Nachdem der Medien- und Anzeigenmarkt mit dem Krieg zusammengebrochen war, ging es zunächst darum, den Journalist*innen durch monatliche Unterstützung ihre Arbeit zu ermöglichen. Dank einer Förderung des deutschen Auswärtigen Amtes gelingt uns das für über 100 Journalist*innen und kleine Newsrooms seit Herbst 2022 und ist bis 2025 gesichert. 

Zusammen mit verschiedenen ukrainischen Organisationen und Unternehmen (zum Beispiel Public Interest Journalism Lab, The Fix Media, Lviv Media Forum) leisten wir auch technische Hilfe, können für Frontberichterstatter*innen Versicherungen übernehmen und beteiligen uns jetzt auch am Lviv Media Forum. Auch für die Journalist*innen, die durch Voices of Ukraine gefördert werden, würde ich mich freuen, wenn ihre Artikel in Europäischen Medien mehr aufgegriffen werden könnten. Klar brauchen wir unsere erfahrenen Auslandskorrespondent*innen. Aber die ukrainischen Journalist*innen sind Tag für Tag in diesem Krieg unsere Augen und Ohren, sehen und hören mehr, als die Kolleg*innen aus dem Ausland. 

Seit Russland der Ukraine den Krieg offiziell erklärte, gibt es mehr Aufmerksamkeit für das angegriffene Land. Es wirkt sich bis heute aus, dass das Interesse des Westens im Osten Europas auf Russland fixiert war. Unser Desinteresse gerade an zentraleuropäischen Staaten wie der Ukraine hat Russland im Informationskrieg und dann bei der Invasion geholfen. Die stärkere Einbeziehung von Stimmen aus Osteuropa in europäischen Medien ist ein Akt von Respekt, aber auch ein Beitrag zu unser aller Sicherheit in einem hybriden Krieg.   


Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie Journalismus, der nicht an Grenzen Halt macht.

Nutzen Sie unsere Abo-Angebote oder stärken Sie unsere Unabhängigkeit durch eine Spende.

Zum gleichen Thema