"Reiche Eltern für alle." Studentendemonstration in Berlin. (AFP)

Studium Bolognese 
stößt auf

Immer wieder beben die Universitäten unter der europäischen Studienreform. Seit einigen Wochen stellen die deutschen Studenten die viel zu vollgestopften Studienpläne und die inakzeptablen Studienbedingungen in Frage. Und in den Zeitungen debattiert man darüber, ob der "Bologna-Prozess" auch wirklich richtig ist.

Veröffentlicht am 26 November 2009 um 15:27
"Reiche Eltern für alle." Studentendemonstration in Berlin. (AFP)

Nach Österreich nun auch Deutschland. Zehn Jahre nachdem er auf den Weg gebracht wurde, zweifelt man seit Beginn des neuen Semesters nun auch hierzulande am Bologna-Prozess, dem Ideal vom gemeinsamen europäischen Universitätsraum. Zum ersten Mal seit der revolutionären Ära der 1960er und 1970er Jahre kämpfen Studenten, Studentenführer und Professoren gemeinsam an der gleichen Front, erinnert die Süddeutsche Zeitung. Wie die Münchener Tageszeitung erklärt, leiden die Studenten an "überregulierten" Studiengängen, in denen es unmöglich ist, die Lücken im Allgemeinwissen zu stopfen, die auf dem Gymnasium entstanden sind. Ihrerseits verzweifeln die Professoren daran, in der "Knechtschaft der Effizienz" zu stehen, die der Wettlauf um gute Positionen in internationalen Rankings erfordert. Dafür müssen sie so viel forschen und publizieren wie sie nur können. Beim Stichwort Drittmittel-Einwerbung "verschwenden sie extrem viel Zeit" bei der Suche nach Finanzierungen, anstatt diese für "die Lehre und die Forschung" zu verwenden, so die FAZ.

Für die SZ ist die Protestbewegung absolut gerechtfertigt, auch wenn "die Studenten Bildungs- und Sozialpolitik vermengen. […] Denn der Protest gegen die – im internationalen Vergleich moderaten – Studiengebühren ist nicht nur ziemlich aussichtslos, er ist auch falsch." "Die Studenten verfolgen nicht nur rationelle Ziele ('Reiche Eltern für alle')", pflichtet die Berliner Tageszeitung bei. "Sie wenden sich nämlich gegen Reformen, die längst überfällig sind: Reformen, die mit Bildungskonzepten des 19. Jahrhunderts aufräumen. Der Bachelor verabschiedet sich von der Vorstellung, dass alle, die an die Uni gehen, Professor werden wollten oder sollten. Daher ist es richtig, das Studium zu portionieren und studierbar zu machen."

An die Protestierer: Studieren ist mühsam

Die alternative Tageszeitung urteilt jedoch auch über das Handeln der Studenten, welches von "einem hochfahrenden Bildungsbegriff" geprägt ist, demzufolge Bildung "zweckfrei" sein muss "und ausschließlich der Persönlichkeitsentwicklung dienen" darf. "Es ist eine deutsche Eigenart, sich in romantische Konzepte zu flüchten - und das undemokratische Bildungssystem real nicht anzutasten." Denn die Studentenzahlen schlagen alle Rekorde. Allein in diesem Jahr haben sich 423.000 Studenten im ersten Semester eingeschrieben, berichtet die Süddeutsche Zeitung. "Das sind so viele Erstsemester wie noch nie" und entspricht gegenwärtig 43,3 % der jungen Deutschen.

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Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet macht diese Entwicklung den Bologna-Prozess geradezu unumgänglich, betont das Handelsblatt. "Keiner traut sich, den Studenten zu sagen, dass ein Studium schon immer anstrengend war. Wie war es bisher? Massen von Studenten haben Zeit vertrödelt, weil es keine Struktur gab und sie sich selbst überlassen waren." Die Wirtschaftszeitung räumt ein, dass die Studiengänge tatsächlich zu streng organisiert sind, aber die Verkürzung der Studienzeit und die Flexibilität, die Bologna zu verdanken sind, sind zukunftsfähige Ideen.

An die Politik: Realitätsfremde Reformhelden

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung merkt Jürgen Kaube an, dass die Regierungsmitglieder erst einmal über das Thema Bescheid wissen sollten. "Kennt [die deutsche Bildungsministerin Anette Schavan] die Hochschulen? Woher weiß sie, dass die Reform richtig ist? Kennt sie Hochschulen? Weiß sie, wie sich dort die Professoren, denen man Exzellenzanreize hingehalten hat, aus der Lehre in der Bachelor-Phase zurückziehen? Hat sie davon gehört, dass Bologna das Studierverhalten demoralisiert, weil es vielerorts zu rein notentaktischen Einstellungen auffordert? Dass das Vergnügen am Studium sinkt, weil es nur noch als Hindernisparcours wahrgenommen wird? Und weiß sie, "dass man in Oxford oder Zürich nach wie vor lachen würde, wenn jemand unter Berufung auf ein deutsches Bachelor-Zertifikat den Zugang zum weiterführenden Studium erzwingen wollte?"

Ist Bologna also eine neoliberale Reform? – Ganz im Gegenteil, versichert Armin Nassehi in der FAZ. Es ist vielmehr "der Schwefelduft sozialistischer Fünfjahrespläne, den man hier riechen kann. Wie man in der staatlich gesteuerten Ökonomie des Ostblocks die Karotten- und Stahlträgerernte der nächsten fünf Jahre bis auf die einzelne Wurzel und bis auf die konkrete Tonne Stahl vorberechnet und kalkulierte, scheint das Idealbild der neuen Studiengänge ein vollständig durchgeplanter Studienverlauf zu sein. Ähnlich wie in der politischen Ökonomie des Fünfjahresplans erzeugt der Dreijahresplan eines grundständigen Bachelor-Studiengangs die Illusion der Planbarkeit und Kontrolle." Nassehi meint, dass die Studenten viel mehr eine wirklich liberale Reform fordern müssten. Diese würde es ihnen ermöglichen, den Verlauf ihres Studiums wirklich individuell zu gestalten. Weil in Europa eben nicht alles gleich sein sollte.

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