Totgesagte leben länger

Die These des amerikanischen Politologen Charles Kupchan eines voraussehbaren Endes der Union hat in Europa für Kontroversen gesorgt. Für Il Sole 24 Ore hat das Krisenmanagement während der Eurokrise gezeigt, dass es trotz aller Schwierigkeiten mit der europäischen Integration vorangeht. Eine Antwort.

Veröffentlicht am 3 September 2010 um 14:06

Anlässlich der Verleihung des Karlspreises an den polnischen Regierungschef Donald Tusk in Aachen am vergangenen 13. Mai, auf dem Höhepunkt des griechischen Wirtschafts- und Finanz-Tsunamis, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre neue Europa-Vision dargelegt: "Die Krise um die Zukunft des Euro", hob sie hervor, "ist nicht irgendeine Krise. Sie ist die größte Bewährungsprobe für Europa seit Verabschiedung der Römischen Verträge im Jahr 1957. Diese Bewährungsprobe ist existenziell. Sie muss bestanden werden. Gelingt das nicht, dann sind die Folgen für Europa und darüber hinaus unabsehbar. Gelingt es aber, dann wird Europa stärker sein als zuvor."

Diese Worte kamen derart unerwartet, dass die internationale Presse sprichwörtlich überrumpelt wurde. "Soll sich Europa von der Krise erholen", fügte die Bundeskanzlerin hinzu, "dann muss Europa die Probleme ehrlicher beim Namen nennen. Europa wird vertragliche Konsequenzen ziehen und sich stärker wirtschafts- und finanzpolitisch verzahnen müssen. Und jenseits des Ökonomischen wagen wir nach der gemeinsamen Währung vielleicht weitere Schritte, zum Beispiel den hin zu einer gemeinsamen Armee. Am Ende geht es um unsere Werte und Grundsätze: Demokratie, Wahrung der Menschenrechte und nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum."

Die Krise schob die Macht von Brüssel nach Berlin

In Anbetracht der Äußerungen von Angela Merkel zeigt die Prognose des amerikanischen Professors Charles Kupchans eines baldigen Endes des europäischen Integrationsprozesses, wie schwierig es ist — und nicht nur jenseits des Atlantiks —, Europa zu verstehen. Dass diese düstere Vorsehung dazu noch aus einem Land kommt, das so schwer von der Finanzkrise geschüttelt wurde, dass es selbst jeden Sinn für Identität und Zukunft verloren hat, klingt wie eine Provokation. Doch seit seiner Gründung ist Europa — dessen Umrisse immer noch sehr vage sind — ein Schiff ohne Hafen gewesen.

Mit der Krise hat sich das Machtzentrum von Brüssel nach Berlin verschoben. Um sich den Einfluss Deutschlands vor Augen zu führen, sollte man die Pressemitteilung des Europäschen Rats vom 11. Februarlesen. Zu diesem Zeitpunkt ist die griechische Krise in vollem Gange, und mehr und mehr wird an die wirtschaftlich stärkeren Länder appelliert, Solidarität mit Athen zu beweisen. In der Mitteilung aber kommt das Wort "Solidarität" nicht einmal vor. Der frischgebackene EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy unterstützt die Position Berlins. Man unterstreicht zwar die Verantwortung Griechenlands für die Krise, erklärt sich aber zur Unterstützung bereit, da ein starker Euro im Interesse aller sei. An diesem Tag hat sich die europäische Rhetorik gewandelt: Die gemeinschaftliche Solidarität musste den nationalen Interessen weichen.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Solidaritätsbruch war eine Fehldiagnose

Zwischen den EU-Ratssitzungen von Februar und März übernimmt Angela Merkel in Europa die Initiative. Sie lässt Kommissionspräsident José Manuel Barroso und auch Herman van Rompuy am Wegrand stehen. Die Entscheidungen des Europäischen Rats werden zwischen Paris und Berlin abgesprochen, in Abstimmung mit EZB-Chef Jean Claude Trichet, der eine bedeutende Vermittlerrolle spielt.

Trotz aller Gegensätze sieht es so aus, als wollten die beiden Hauptstädte künftig kooperieren und auf eine Wirtschaftsregierung in der Eurozone hinarbeiten. Doch die von Trichet wiederholt kritisierte Langsamkeit der EU-Entscheidungen lassen im April das Feld frei für die Finanzmärkte, die überzeugt sind, dass das europäische Engagement Deutschlands immer schwächer wird, und es unaufhaltsam zum Solidaritätsbruch kommen wird. Eine Fehldiagnose, wie sich herausstellt. Die Anfang Mai getroffenen Beschlüsse schaffen ein gemeinsames Instrument [den Rettungsschirm], um die Griechenlandkrise unter Kontrolle zu bekommen. Der Euro "ist der Eckstein für den europäischen Aufbau" erklärte Angela Merkel. "Sein Scheitern würde verheerende Folgen für Europa haben."

Die EU ist nicht tot, sie holt Luft

Der Euro bringt Deutschland erhebliche Vorteile. Alle europäischen Länder eifern dem deutschen Modell nach: größere Haushaltsdisziplin, Strukturreformen, um Wettbewerbsnachteile auszugleichen, sowie Schaffung eines Rettungsmechanismus für Krisenfälle und engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Diese Punkte stehen auch auf der Tagesordnung der Task-Force, die unter Leitung Herman van Rompuys in den kommenden Monaten ihre Ergebnisse vorlegen soll.

Im Juli fand der Europäische Rat zu einer Einigung in der Frage des EU-Auslandsdienstes und beschloss gewisse Strukturen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise dauerhaft zu übernehmen. Darüber hinaus wurde von Mario Monti eine neue Strategie für den Binnenmarkt vorgelegt, und es stehen auch neue Pläne für den gemeinsamen Haushalt an.

Die Krise und ihre Folgen haben somit den europäischen Ländern ein neues Gesicht der Globalisierung gezeigt. Die EU-Länder haben begriffen, was der Euro ihnen bringt und was sie ihm schulden. Heute werden die gemeinsamen Interessen neu definiert. Wahrscheinlich braucht es dafür neue EU-Verträge, wie Angela Merkel vorgeschlagen hat. Und neue politische Perspektiven. Im Gegensatz zu dem, was Charles Kupchan behauptet, ist mit der Krise die Zeit der EU nicht vorüber. Sie hat eher dazu beigetragen, die Sanduhr umzudrehen. (js)

Reaktionen

Vier Rezepte für harte Zeiten

Der Artikel Charles Kupchans löste bei den europäischen Experten paradoxerweise eine Welle des Stolzes und des Optimismus aus. Vier von ihnen wurden von Il Sole 24 Ore interviewt. Sie gestehen zwar ein, dass Europa in Schwierigkeiten ist, aber noch lange nicht am Ende. Für Marta Dassù vom Aspen Institute stammen die Probleme des Regierens in der EU daher, "dass die Union keine Wunschvorstellung mehr ist, sondern Wirklichkeit." Der Schlüssel zur Bewältigung der Krise liege darin, das Ungleichgewicht aufgrund der zunehmend dominierenden Wirtschaftsmacht Deutschlands auszugleichen. Der Wirtschaftswissenschaftler Franco Bruni schätzt, dass "der Konjunkturaufschwung mit einer Finanzreform beginnen muss. Die Haushaltspolitik der Unionsländer muss mehr Zusammenhalt schaffen." Daniel Gros, Direktor des Centre for European Policy Studies meint, der "Aufschwung muss durch die Mitgliedsstaaten geschaffen werden." "Er wird nur kommen, wenn die Bürger merken, dass ein echter Wandel stattgefunden hat." Und für Stefano Micossi vom Europakolleg in Brügge wird "die aktuelle schwäche Europas mit dem Tandem Barroso-Van Rompuy versinnbildlicht." Europa "fehlt es an Politikern von internationalem Format und an einer Marschrichtung." Dennoch "hat die Reaktion auf die Ausfallrisiken einiger Mitgliedsstaaten bewiesen, dass auch ohne Fahrer eine Kurve genommen worden ist."

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema