Die Europawahlen 2024 und rücken näher, und die höchsten Instanzen der EU lagern die Steuerung der Migration nach wie vor aus. Nach Tunesien und Mauretanien ist nun Ägypten an der Reihe.
Europa hat Ägypten ein verlockendes Versprechen gemacht: 7,4 Milliarden Euro Wirtschaftshilfe im Austausch für verstärkte Grenzkontrollen. Das am 17. März 2024 unterzeichnete Partnerschaftsabkommen sieht unter anderem einen Betrag von 200 Millionen Euro vor, der für die Migration reserviert bleiben soll. Von Ägypten brechen zwar nur relativ wenige geflüchtete Menschen nach Europa auf, aber das Land liegt strategisch an der Kreuzung mehrerer Migrationsrouten zwischen Libyen, dem Gazastreifen und dem Sudan.
„Das Timing dieser Externalisierung nach Ägypten nicht unwichtig. Die EU befürchtet einen Massenzustrom aus Palästina, wo die Menschen vor den Massakern der israelischen Streitkräfte in Gaza fliehen“, erklärt das französische Medium Politis.
In der deutschen TAZ bezeichnet Mirco Keilberth den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sissi bereits als „Europas neuer Lieblingsdiktator“. Al-Sissi hat allerdings kaum eine andere Wahl: Der „Staatspräsident [...] möchte mit dem so vereinbarten Finanzierungspaket in Höhe von 7,4 Milliarden Euro die strauchelnde Wirtschaft seines 106-Millionen-Einwohnerlands vor dem Absturz retten“, so Keilberth. „Der Krieg in Gaza, schwindende Einnahmen auch aus dem Tourismus und der Absturz des ägyptischen Pfunds haben die sozialen Spannungen im Land in den vergangenen Wochen ansteigen lassen.“
Auch die Bevölkerung Ägyptens selbst könnte das Abkommen mit der Europäischen Union in Mitleidenschaft ziehen, meint Bianca Carrera Espriu im Green European Journal (GEJ). „Wer einer Regierung, die extrem missbräuchlich handelt, Dual-Use-Überwachungstechnologie liefert und sie im Umgang mit dieser Technologie schult, der erhöht das Risiko, dass diese Technologie zur Überwachung der eigenen Bevölkerung und zur gezielten Verfolgung politischer Gegner eingesetzt wird“, warnt Claudio Francavilla, stellvertretender Leiter der EU-Anwaltschaft für die NGO Human Rights Watch im GEJ.
Ein Abkommen jagt das andere
Bereits in meiner letzten Presseschau war ich auf das Abkommen zwischen der EU und Mauretanien eingegangen. Noch ist die Tinte nicht ganz trocken, da wird das Abkommen bereits vielfach kritisiert. In einem umfassenden Artikel für Al Jazeera erläutert Hassan Ould Moctar die beispiellose Situation: „Zum einen ist die ausgehandelte Finanzierung viel umfangreicher als bei früheren Externalisierungsbestrebungen. [...] Zum anderen hat das jüngste Migrationsabkommen, während sich der Widerstand gegen eine Externalisierung der Grenzen in Mauretanien bisher stets auf eine handvoll zivilgesellschaftlicher Organisationen beschränkt hatte, einen Aufschrei in der Gesellschaft ausgelöst“, meint er. Die Oppositionsparteien sehen darin einen Plan, um „illegale Einwanderer“ im Land anzusiedeln, die Zivilgesellschaft kritisiert die Bemühungen der EU, „Mauretanien zur Polizei Europas“ zu machen.
Aber die EU sucht schon weiter.
Bei einem Besuch in Zypern kündigte der Vizepräsident der Europäischen Kommission Margaritis Schinas die Fortsetzung des Programms an: Mit dem Libanon soll ein ähnliches Abkommen wie mit Ägypten geschlossen werden. Der Grund: Menschen, die aus Syrien flüchten. Zwar befindet sich der Text noch im Entwurfsstadium, aber für die Inselrepublik steht viel auf dem Spiel: „[Allein im März 2024] registrierten die Behörden 533 Personen, die über das Meer ankamen – im März 2023 waren es noch 36“, so die Agentur Reuters. Würden Teile des vom Bürgerkrieg verwüsteten Landes als „sicher“ eingestuft, könnte Nikosia die Menschen, die aus diesen Regionen stammen, zurückführen.
Auf einer Pressekonferenz lobte Schinas die Erfolge des Landes bei der Bekämpfung der Migration und gratulierte dem kleinen Zypern, das sich zum „Rückführungs-Europameister“ entwickle, berichtet die griechische Tageszeitung Kathimerini.
Unsere Politik und die Konsequenzen
In einem Blogbeitrag für POLITICO zeigt die Menschenrechtskommissarin des Europarats Dunja Mijatović verschiedene Menschenrechtsverletzungen auf, die gegen geflüchtete Menschen und Asylsuchende begangen werden – diesmal sogar innerhalb der EU-Grenzen. Aus ihrer Sicht senden die repressivsten Maßnahmen eine gefährliche Botschaft. Sie appelliert: „[Sie signalisieren], dass die Autorität und Unabhängigkeit der Gerichte, der Zugang zur Justiz und zu den Menschenrechten, geopfert werden können, wenn es den politischen Prioritäten oder Erwägungen vor Wahlen entspricht“.
Sie spielt besonders auf die Praktiken Großbritanniens und Frankreichs an und ist besorgt über die Auswirkungen, die sie auf den gesamten Kontinent haben könnten. Die Erosion beginne damit, „dass die grundlegende Bedeutung der Gewaltenteilung aufgekündigt wird. Sie wird dann zu einer direkten Bedrohung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und letztendlich der Grundwerte demokratischer Gesellschaften.“
„Wenn sich der Staat tatsächlich gegenüber geflüchteten Menschen sehr unfreundlich zeigt, ist das für die französische Gesellschaft alles andere als vorteilhaft. Daraus folgen erhebliche Verstöße gegen die Rechte und Freiheiten aller Mitglieder dieser Gesellschaft“, argumentiert Vincent Sizaire für Manière de Voir (Le Monde diplomatique) So fördere die französische Politik nicht nur den Menschenhandel und das Entstehen von Gruppen schutzbedürftiger, billiger Arbeitskräfte, sondern mache das Ausländerrecht zu einem „Labor für außergerichtliche Zwangsmaßnahmen, die dann auf alle Bürgerinnen und Bürger ausgeweitet werden“. Laut Sizaire werden repressive Praktiken zunächst an ausländischen Staatsangehörigen erprobt, bevor sie auf „als gefährlich eingestufte Kategorien von Personen“ angewandt werden, bis hin zu Einzelpersonen und Gruppen, die zurecht oder zu Unrecht als „terrorverdächtige Personen“ bezeichnet werden– eine bemerkenswert flexible gesetzliche Definition. Er meint daher: „Sich für die Achtung der Rechte und Freiheiten ausländischer Staatsangehöriger einzusetzen, ist nicht nur ein Ausdruck der Brüderlichkeit, sondern auch ein Engagement für die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger“.
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