„Verdammt sei, wer noch für die (Mitgliedschaft Belgrads in der) EU ist.“ Anhänger der Nationalisten von Dveri mit der serbischen Flagge vor der EU-Vertretung in Belgrad. 17. November 2012

Unbeglichene Kriegsrechnungen

Die Freisprechung der beiden kroatischen Generäle und eines ehemaligen kosovarischen Premiers hat den Streit über eine beliebte Frage im ehemaligen Jugoslawien neu entfacht: Wer war in dem Krieg vor knapp zwanzig Jahren das Opfer und wer der Angreifer?

Veröffentlicht am 3 Dezember 2012 um 16:13
„Verdammt sei, wer noch für die (Mitgliedschaft Belgrads in der) EU ist.“ Anhänger der Nationalisten von Dveri mit der serbischen Flagge vor der EU-Vertretung in Belgrad. 17. November 2012

Obwohl die beiden kroatischen Generäle Ante Gotovina und Mladen Markač, die angeklagt waren, in der militärischen Auseinandersetzung zwischen Serben und Kroaten Mitte der 1990er Kriegsverbrechen begangen zu haben, bereits vor zwei Wochen freigesprochen wurden, sorgt das Urteil bis heute für große Aufregung in der Region. Jede Seite erklärt den Freispruch auf ihre Art.

Die Serben betrachten ihn als Skandal und weiteren Beweis für die serbenfeindliche Einstellung und Einseitigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Für die Kroaten bestätigt das Urteil die Rechtmäßigkeit der Operation Sturm im Sommer 1995, als die kroatischen Streitkräfte den Großteil der von den Serben besetzten Gebiete zurückeroberten, und stellt einen triumphalen Sieg in dem immer noch schwelenden Streit über die Frage dar: Wer war im Balkankrieg das Opfer und wer der Angreifer?

Im April 2011 befand das Haager Tribunal Gotovina und Markač, Befehlshaber der kroatischen Armee im Balkankonflikt, unter Anklage wegen Raubs, unmenschlicher Behandlung, Mords, Zerstörung und Plünderung, für schuldig. Danach hob der Gerichtshof jedoch mit einer Zweidrittelmehrheit dieses Urteil wieder auf und sprach beide Generäle bis auf einen Anklagepunkt frei: Sie wussten von den Verbrechen ihrer Untergebenen und hätten Ermittlungen anstellen sollen.

Der Freispruch und die darauffolgende Freilassung Markačs und Gotovinas, der als Nationalheld gefeiert wird, wurden in Kroatien mit großer Begeisterung aufgenommen. In den meisten Städten wurde die Urteilsverkündung auf Riesenleinwänden an öffentlichen Orten ausgestrahlt. Viele Zuschauer beteten leise vor der Verlesung des Urteils. Nach dem Freispruch brachen alle in Begeisterung aus. Veteranen, Frauen und Kriegsverletzte weinten vor Freude.

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Ermittlungen, Streit und Mythen

Dann begann ein nationaler Freudentaumel, nicht nur in Kroatien, sondern auch im Ausland, wo die kroatische Diaspora das Urteil angemessen feierte. So lief Mario Mandžukić, der Stürmer vom FC Bayern München, im Torjubel zur Kurve und salutierte. Seine Geste wurde von den meisten Kroaten als Gruß an die freigelassenen Generäle ausgelegt.

Die Serben reagierten rasch auf den Freispruch und die darauffolgende kroatische Euphorie. Eine in Belgrad geplante Konferenz über die Arbeit des Haager Tribunals wurde abgesagt. Der Gerichtshof hätte seine Glaubwürdigkeit eingebüßt, so der serbische Außenminister Rasim Ljacić, während die stellvertretende Ministerpräsidentin Suzana Grubješić, die für die europäische Integration zuständig zeichnet, ihren Besuch in Zagreb absagte, wo sie ein serbisch-kroatisches Protokoll über die Integration in die EU unterzeichnen sollte.

Einige Tage später begann die serbische Staatsanwaltschaft sechs neue Ermittlungen über die angeblich im Rahmen der Operation Sturm begangenen Kriegsverbrechen. „Wir wollen diese Ungerechtigkeit wettmachen“, erklärte der serbische Staatsanwalt Vladimir Vukčević, der mit der Aufklärung von Kriegsverbrechen betraut ist und ganz offen über die Intentionen seiner Regierung sprach. Die serbische Staatsanwaltschaft führt bereits eine Reihe von Ermittlungen über angebliche, während des Konflikts in den übrigen jugoslawischen Republiken begangene Verbrechen. Dies führte mehrmals zu Streitigkeiten, in erster Linie mit der Regierung Bosnien-Herzegowinas.

Ziel der von General Gotovina im August 1995 gestarteten Operation Sturm war es, die serbischen Streitkräfte aus Krajina zu vertreiben, einer Region, die zuvor zu Kroatien gehört hatte. Die meisten Kroaten sehen diesen Feldzug als entscheidenden Kampf in einem reinen Verteidigungskrieg. Nach einer Reihe von Niederlagen setzte Operation Sturm dem Konflikt zugunsten der Kroaten ein Ende. Selbstverständlich kamen dabei auch Zivilisten ums Leben, aber diese Opfer werden in Kroatien selten erwähnt, weil sie nicht zum Mythos des reinen Verteidigungskriegs passen.

Hohle Versprechen

In der Operation Sturm starben mehr als 600 serbische Zivilisten, in erster Linie alte und kranke Menschen, die nicht aus Krajina fliehen wollten oder konnten. 600 Tote und 200.000 Vertriebene, diese Zahlen kann niemand in Serbien vergessen. Die Angehörigen der Opfer, die heute vor allem in Serbien leben, sind über das Urteil des Haager Tribunals empört. Die wenigen Serben, die noch in Krajina wohnen, ziehen es vor, nicht Hals und Kragen zu riskieren, und schweigen.

Mitglieder der kroatischen Nichtregierungsorganisationen, die von den beiden Aktivisten Vesna Teršelić und Zoran Pusić geleitet werden, unterstreichen, dass Kroatien die dunkle Seite des Konflikts, die Verbrechen, die von den eigenen Streitkräften begangen wurden, nicht vergessen darf.

Sie sind aber in der Minderheit. In Kroatien wird wohl nicht so bald ein Angehöriger der Armee wegen Kriegsverbrechen in der Operation Sturm verurteilt werden. Einige kroatische Soldaten wurden wegen Tötung vor Gericht gestellt, aber alle wurden freigesprochen. Zu den bislang noch nicht geahndeten Straftaten gehören die Verbrechen in Mokro Polje und Golubić am 6. August 1995, die Angriffe auf Flüchtlinge am 7. und 8. August 1995 sowie die Verbrechen am 25. August 1995 in Komic und Grubori, wo kroatische Soldaten Miloš Grubor (80), Jovo Grubar (65), Marie Grubor (90), Duro Karanović (41) und Milica Grubor (51) ermordeten.

Der kroatische Ministerpräsident Zoran Milanović und der Präsident Ivo Josipović gaben sich nicht der landesweiten Euphorie hin und hoben stattdessen hervor, dass Kroatien diejenigen, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben, möglichst schnell vor Gericht bringen will. 17 Jahre nach dem Kriegsende klingt dieses Versprechen allerding etwas hohl.

Eine eigene Idee vom Krieg

Ante Gotovina überraschte alle, als er in einem Gespräch mit dem Belgrader Boulevardblatt Kurir auf die Frage, ob er selbst die Serben dazu aufrufen würde, nach Krajina zurückzukehren, antwortete: „Wie kann ich jemanden auffordern, nach Hause zurückzukehren? Sie [die Serben] sind Bürger Kroatiens. Sie gehören zu uns. Wir gehören zusammen. Wir müssen weitermachen. Die Zukunft gehört uns. Die Vergangenheit ist vorbei.“

Obwohl fast zwei Jahrzehnte seit dem Kriegsende vergangen sind und trotz der Arbeit des Gerichtshofs in Den Haag, hat jeder Staat, der aus dem ehemaligen Jugoslawien entstanden ist, seine eigene Idee des Kriegs. So wie in Serbien niemand von den Opfern der serbischen Kriegsverbrecher in Vukovar oder Sarajevo spricht, so erwähnen in Kroatien nur eine Handvoll von „Verrätern“, die Verbrechen der Kroaten. Diese Einstellung ist jedoch nicht nur in den beiden Ländern zu beobachten. Ähnliche Beziehungen herrschen zwischen Serbien und Kosovo, Serbien und Bosnien-Herzegowina und neuerdings auch zwischen Bosnien-Herzegowina und Montenegro.

Die Regierungen in Belgrad, Zagreb, Sarajevo, Pristina, Podgorica und Skopje sind an Höhen und Tiefen in den diplomatischen Beziehungen gewöhnt. Sie erheben rasch Beschuldigungen, sind schnell beleidigt und hetzen gern die Massen auf. Kaum ein Politiker in der Region hat den Mut, den kürzlich eine Gruppe serbischer Kriegsveteranen gezeigt hat, als sie nach Srebrenica fuhren, um Blumen unter das Mahnmal zu legen und mit den Angehörigen der dort begrabenen Bosnier zu sprechen. (cr)

Aus Belgrad

Ein anti-serbischer Gerichtshof

Der Freispruch des Kosovaren Ramush Haradinaj durch den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wird von den Serben als zusätzliche Schmach empfunden. Der ehemalige Kriegschef und Ex-Premier der früheren serbischen Provinz wurde am 29. November in allen Anklagepunkten vom Vorwurf der Kriegsverbrechen in den Jahren 1998-1999 freigesprochen.

„Das Gericht dient einzig und allein der Verurteilung des serbischen Volkes“, kommentierte Serbiens nationalistischer Präsident Tomislav Nikolić den Richterspruch. Dieser Ansicht sind auch die proeuropäischen Kreise des Landes.

„Das ist eine Beleidigung für die serbischen Opfer“, meint die Tageszeitung Blic. Sie übt scharfe Kritik an einer ganzen Freispruch-Serie. Diese treibe —

...alle Serben in den Wahnsinn, die an die Werte der westlichen Demokratie geglaubt und gegen den Krieg, die Gewalt, Milošević und seine Politik gekämpft haben. Der ICTY hat nun sein wahres Gesicht gezeigt: der Gerichtshof ist nicht dazu da, Gerechtigkeit walten zu lassen.

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