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Warum das Emissionshandelssystem nicht funktioniert und wie man das Problem beheben könnte

In Europa haben Emissionen einen Preis. Das Emissionshandelssystem der EU (ETS) legt für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten eine jährliche Obergrenze und einen Preis fest. Wijnand Stoefs ist Referent bei Carbon Market Watch und meint, das System müsse zu einem „ehrgeizigeren Instrument“ werden.

Veröffentlicht am 15 April 2021 um 16:00

Die Idee für das ETS stammt aus den späten 1990er Jahren und entstand aus einer langen Debatte um die Einführung einer CO2-Steuer. Der Grundgedanke: sämtliche Emissionen sollten mit einem Preis versehen werden und die jeweils verursachenden Parteien dafür bezahlen.

Das Ziel: Alle Anlagen, die unter das Emissionshandelssystem fallen (inzwischen rund 11.000), sollten zur Entkarbonisierung, also zur Verringerung des Verbrauchs CO2-haltiger Stoffe, gezwungen werden. Die meisten sind große Anlagen in der Schwerindustrie und der Stromerzeugung (zum Beispiel Raffinerien, Zementwerke, Stahl-, Aluminium- und Chemiefabriken) in allen EU-Mitgliedstaaten, Norwegen, Island und Liechtenstein. Vor dem Brexit war auch Großbritannien betroffen.

Seit der Einführung des ETS im Jahr 2005 gab es allerdings schon vier Phasen mit unterschiedlicher Gesetzgebung und unterschiedlichen Instrumentarien. Vor allem wurden in der zweiten Phase, als die freie Zuteilung nach der Wirtschaftskrise 2008 sehr großzügig gehandhabt wurde, zu viele Europäische Emissionszertifikate (European Union Allowance, EUA) ausgegeben, was schnell zu großen Problemen führte.


„Nicht nur, dass Stahlhersteller einige Zertifikate kostenlos bekamen: sie erhielten sogar so viele, dass sie sie verkaufen konnten“, erklärt Wijnand Stoefs, der bei Carbon Market Watch als Referent für EU ETS, internationale Schifffahrt und Entkarbonisierung zuständig ist.

Mehr als 1 Milliarde Zertifikate wurden ausgestellt und in der Folge fiel der Preis unter 5 Euro pro Tonne CO2. 2019-2020 stieg das von Zertifikaten gedeckte Volumen auf 2 Milliarden Tonnen, sodass im System mehr Zertifikate im Umlauf waren als sämtliche Anlagen während eines Jahres emittieren konnten. „Es waren einfach zu viele, das Angebot war zu groß.“

Hilfreich waren einige buchhalterische Tricks zur Verknappung, wie beispielsweise die Marktstabilitätsreserve (MSR), die aktiv Zertifikate aus dem System nimmt. „Jedes Jahr errechnet die EU-Kommission, wie viele Zertifikate im Umlauf sind, wie viele seit Bestehen des ETS entweder verkauft oder kostenlos vergeben und wie viele zurückgegeben wurden“, sagt Stoefs.

„Die Quelle für das Überangebot wurde gestopft und dadurch ein Problem gelöst, aber momentan kämpfen wir immer noch mit den Nachwirkungen.“ Das Überangebot führte dazu, dass die jährliche Obergrenze jahrelang zu hoch war. „Momentan sinkt sie nicht sehr schnell. Bis Ende 2020 ging sie jährlich um 1,74 % zurück, aber ab 2021 wird sie um 2,2 % pro Jahr reduziert. Wenn wir weitermachen wie bisher, wird uns das teuer zu stehen kommen.“


 

Wohin fließt das Geld? Die Länder erhalten Einnahmen aus der Versteigerung von ETS-Zertifikaten an die Stromerzeuger, die Industrie erhält weiterhin einen Großteil ihrer Zertifikate kostenlos.

„In einer idealen Welt würden alle Zertifikate versteigert. Sie würden alle auf einem Marktplatz angeboten, die Unternehmen könnten sie von den Aufsichtsbehörden erwerben und somit hätte jede Tonne CO2, mit der diese Unternehmen die Umwelt verschmutzen, innerhalb Europas einen Preis. Was mit den Einnahmen geschieht, ist jedoch kompliziert. Den überwiegenden Teil erhalten die Mitgliedstaaten, abhängig von ihrer Größe und ihren Emissionen in der Vergangenheit.

Deutschland erhält wegen seines großen Industrieanteils beispielweise einen großen Anteil der Einnahmen. Trotz der Entkarbonisierung beibt der Anteil des Landes gleich und „innerhalb des Rates gibt es ständig Streit über dieses Thema“.

Die Funktionsweise des ETS wird in einer EU-Richtlinie geregelt. „In dieser Richtlinie steht, dass die Länder 50 % der Zertifikate für Klimaschutz und Energiepolitik einsetzen sollen – das Wort „sollen“ ist hier sehr wichtig. Dahinter steht der Gedanke, dass wir große Umweltverschmutzer zahlen lassen und das so eingenommene Geld für die Entkarbonisierung verwenden.“

In Frankreich ist das so, hier werden die Gelder für Sanierungsmaßnahmen verwendet. Belgien hingegen ist darin sehr schlecht: „Milliarden an ETS-Subventionen wurden an Branchen mit hoher Umweltverschmutzung vergeben, deren CO2-Emissionen gingen aber nicht zurück“. Einige Länder setzen die Einnahmen überhaupt nicht für den Klimaschutz ein.

Generell „sieht es nicht gut aus“, sagt Stoefs. „Das Geld fließt oft einfach in den allgemeinen Staatshaushalt – gleichzeitig ist der Klimaschutz unterfinanziert und das ist sehr schade.“

Nach den derzeit gültigen Regeln erhält die Industrie in der EU zwischen 2021 und 2030 rund 6,5 Milliarden kostenlose Emissionszertifikate im Wert von fast 200 Milliarden Euro (bei einem durchschnittlichen Preis von 30 Euro pro Tonne CO2). „Das sind entgangene Einnahmen, die bei Versteigerungen erzielt und in dringend notwendige Klimaschutzmaßnahmen hätten umgeleitet werden können.“

Die Hauptforderung von Carbon Market Watch ist die Abschaffung der kostenlosen Zertifikate. „Man sollte die Zertifikate zu einem ehrgeizigeren Werkzeug machen und sicherstellen, dass Umweltverschmutzer zahlen“, sagt Stoefs. „Die Obergrenze sollte jedes Jahr schneller gesenkt werden.“ 

Die Organisation fordert außerdem, statt Autos und Gebäuden die Schifffahrt einzubeziehen. Die Unternehmen sollten die Last tragen, nicht Bürger*innen und Verbraucher*innen.

Der derzeitige Umgang mit dem Vertrag über die Energiecharta (ECT) geht in Bezug auf die Umweltverschmutzer in die entgegengesetzte Richtung. „Wir sollten diesen Unternehmen definitiv nicht die Entscheidungsbefugnis über die Umweltpolitik geben – letzten Endes tut der ECT aber genau das.“

„Die EU sollte den ECT aufgeben, er hat keine Daseinsberechtigung. Wer vor 10 Jahren ein Kohlekraftwerk gebaut hat, kann nicht behaupten, nichts vom Klimawandel gewusst zu haben.“

„Wenn all diese Lobbygruppen, die in Brüssel gegen das ETS arbeiten, sich mit gleicher Kraft um die Verringerung der Klimabelastung durch ihre Unternehmen bemühen würden, bräuchten wir vielleicht gar keine Klimapolitik.“

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