Data Steigende Preise

Wie reagieren die EU-Länder auf die Inflation?

Einmalzahlungen für die Ärmsten, Steuersenkungen, Preisregulierung... Die europäischen Staaten ergreifen Maßnahmen gegen die Inflation. Setzen sie dabei auf die gleichen Methoden? Sind manche wirksamer als andere? Ein Überblick.

Veröffentlicht am 16 Juni 2022 um 11:57

Senkung der Energiesteuer, Gutscheine für einkommensschwache Haushalte, Deckelung der Preise… Was kann zur Eindämmung der Inflation getan werden? Die europäischen Regierungen müssen handeln, seit im März die Preise um durchschnittlich 7,8 % innerhalb eines Jahres gestiegen sind. Einige Länder sind davon stärker betroffen als andere. Die Niederlande haben mit einer Inflation von fast 12 % zu kämpfen, Spanien und die Slowakei mit fast 10 %, während Italien und Griechenland mit 7,5 % näher am EU-weiten Durchschnitt liegen. Frankreich und Finnland befinden sich mit 5,1 % und 5,6 % noch unter dem europäischen Durchschnitt. 

In Frankreich hat die Regierung seit November mehrere Maßnahmen zum Schutz der privaten Haushalte und ihrer Kaufkraft eingeleitet. Die Gas- und Strompreise wurden gedeckelt, eine Pauschale von 100 € wurde an alle Personen mit einem Netto-Monatseinkommen von unter 2.000 € ausgezahlt und Niedrigverdiener erhielten einen Energiegutschein im Wert von 100 €. Außerdem gilt seit dem 1. April ein Tankrabatt von 15 Cent pro Liter. Sind die europäischen Nachbarn ähnlich vorgegangen?

Drei verschiedene Ansätze 

„Die Maßnahmen in den verschiedenen Ländern sind nie identisch, da die Regierungen sich nach der Situation ihres Landes richten. Doch im allgemeinen können wir drei Herangehensweisen erkennen, die in Europa seit dem Herbst 2021 und noch intensiver seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine angewandt werden: Zahlungen an die Schwächsten der Gesellschaft, zeitweilige Steuersenkungen oder Rabatte auf Kraftstoff und seltener auch Preisregulierung“, erklärt Nadia Gharbi, Ökonomin bei Pictet Wealth Management. 

Bis auf Bulgarien und Ungarn haben alle EU-Länder Unterstützungsmaßnahmen für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen getroffen. Das hat die Denkfabrik Bruegel in einer Untersuchung des Umgangs der einzelnen Länder mit der Inflation herausgefunden. Die Form und der Umfang der Zahlungen variierten natürlich. In Belgien erhielten bestimmte Gruppen einen Energiegutschein über 80 € (1), in der Tschechischen Republik wurden zwei Gelder zur Grundsicherung um 10 % erhöht, Griechenland zahlte Senioren mit kleinen Renten einmalig 200 € aus und in Litauen wurde für 150.000 gefährdete Haushalte eine monatliche Unterstützung von 15 bis 20 € bis zum Ende des Jahres eingerichtet. Teilweise werden die verschiedenen Ansätze auch kombiniert. In Portugal wurden beispielsweise die einkommensschwachen Haushalte von zwei Steuern ausgenommen, um die Stromrechnungen möglichst gering zu halten. Zypern ging im November ähnlich vor und senkte für Niedrigverdiener die Mehrwertsteuer auf Strom von 19 % auf 5 %, für vorerst sechs Monate.


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Die meisten der in den europäischen Hauptstädten beschlossenen Steuersenkungen sind jedoch nicht auf eine bestimmte Zielgruppe ausgerichtet und kommen daher der gesamten nationalen Bevölkerung zugute, unabhängig des Einkommens. Oft werden die Steuern auf Strom, Benzin oder auf beides reduziert. „Der Vorteil einer Steuersenkung ist, dass sie für die Verbraucher sofort spürbar ist. Sie ist jedoch kostspielig und hilft benachteiligten Haushalten wenig“, erklärt Nadia Gharbi. Einmalzahlungen führen im Gegensatz zu den Steuererleichterungen nicht zu einer Senkung der Güterpreise, entlasten dafür aber die bedürftigen Haushalte stärker.

Die dritte Möglichkeit ist die Preisregulierung. Frankreich hat diese in Form einer Deckelung umgesetzt. Estland und Rumänien haben sich ebenfalls für diesen Ansatz entschieden und die Strom- und Gaspreise im Januar bzw. März eingefroren. Spanien und Portugal sind noch einen Schritt weiter gegangen und haben die Strompreise den Mechanismen des freien Marktes entzogen, die sie zuvor in die Höhe getrieben hatten.

Ende April erhielten Madrid und Lissabon aufgrund ihrer nur begrenzt mit dem Rest des Kontinents verbundenen Stromnetze die Genehmigung der EU, aus dem gemeinsamen Preisbildungsmechanismus auszusteigen. Nach diesem Mechanismus wird der Strompreis in Abhängigkeit der Kosten der letzten ins Netz eingespeisten Megawattstunde berechnet. Hierbei wird der Gaspreis herangezogen, da Gas während Bedarfsspitzen häufig zur Ergänzung der anderen Stromquellen (Kernkraft, erneuerbare Energien) genutzt wird.

„Der Gaspreis hat sich [auf der iberischen Halbinsel] seit letztem Sommer verfünffacht, was zu einem allgemeinen Anstieg des Strompreises in Spanien geführt hat“, bemerkt Ticiano Brunello, der für Spanien und Portugal zuständige Ökonom bei der französischen Bank Crédit Agricole. Der Preis für eine Megawattstunde Gas in den spanischen und portugiesischen Netzen wurde für die ersten Wochen seit Inkrafttreten der Regelung auf 40 € gedeckelt und wird schrittweise auf 50 € angehoben. „Aus diesem Mechanismus [...] ergibt sich ein durchschnittlicher Tagespreis der Megawattstunde von etwa 130 oder 140 Euro“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler. Das ist deutlich weniger als die 283 €, die vorher auf dem iberischen Markt verzeichnet wurden.

Besteuerung der Übergewinne

Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Der generelle Preisanstieg hat eine Debatte über die Besteuerung von Konzerngewinnen eröffnet. Im besonderen geht es hierbei um Energieunternehmen, die aktuell von den hohen Preisen ihrer Produkte profitieren und 2022 wohl sogar bis zu 200 Milliarden Euro an Übergewinn einnehmen werden, wie die Internationale Energieagentur (IEA) schätzte. Die IEA empfiehlt den Regierungen, Steuererhöhungen auf diese zusätzlichen Gewinne in Betracht zu ziehen. In Europa sind bisher nur Italien und Rumänien diesen Schritt gegangen. In Rom wurde im März eine Übergewinnsteuer von 10 % beschlossen, die im Mai durch ein Dekret auf 25 % angehoben wurde. Bukarest kündigte im Oktober 2021 an, eine Steuer von 80 % auf die Einnahmen der Energieproduzenten zu erheben, die zu einem Preis von über 91 € pro Megawattstunde erzielt wurden.

EU-Länder außerhalb der Eurozone haben eigene Zentralbanken, die nicht der Kontrolle der Europäischen Zentralbank (EZB) unterstehen. Dadurch verfügen sie über eine zusätzliche nationale Variable im Umgang mit der Inflation: die Zinspolitik. Die von den Zentralbanken festgelegten Zinssätze bestimmen den Preis der Anleihen für andere Banken des Landes und damit indirekt auch den Preis, zu dem diese Geschäftsbanken Anleihen an private Haushalte und Unternehmen vergeben.

Eine Erhöhung der Zinssätze bremst die wirtschaftliche Aktivität aus, eine Zinssenkung hingegen regt sie an. Um die Preissteigerung zu verlangsamen, hat die EZB am 9. Juni angekündigt, die Leitzinsen um 0,25 % anzuheben. Doch manche der Länder außerhalb der Währungsunion haben diesen Schritt schon gewagt, wie zum Beispiel Polen. Dort sind die meisten Hypothekenzinsen variabel, sodass die Entscheidung der Zentralbank die privaten Budgets wahrscheinlich stark belasten wird. Ungarn, Schweden und die Tschechische Republik haben ebenfalls kürzlich Zinserhöhungen vorgenommen.

Ein wirksames Mittel? Nicht unbedingt. „Die Inflation, die wir gerade erleben, ist nicht monetären Ursprungs, und kann deswegen auch nicht auf monetärer Ebene besiegt werden“, sagt Olivier Passet, Forschungsdirektor bei Xerfi. „Um die aktuelle Inflation in ihrem Kern zu bekämpfen, muss im Bereich der Versorgungsstruktur angesetzt werden [...]. Das beinhaltet die Förderung von Wärmedämmung, die Umstellung auf elektrische Antriebe im Transport und in der Industrie, kohlenstoffarme Energieerzeugung [...], die Schaffung einer Infrastruktur zur Speicherung strategischer Rohstoffe, Rohstoffexploration, Landwirtschaft usw.“ Die Zentralbanken seien deshalb besser beraten, ihre Zinssätze niedrig zu halten, damit die Regierungen möglichst viel Geld in die Transformation investieren können. Denn so könnten das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage in bestimmten Sektoren und daraus resultierend auch die Preisanstiege reduziert werden.

Was kommt als nächstes?

In den kommenden Wochen und Monaten soll sich das Instrumentarium der europäischen Regierungen noch erweitern. „Italien, Spanien und andere Länder befürworten ein gemeinschaftliches Vorgehen der EU, etwa durch den gemeinsamen Kauf von Erdgas und dem Anlegen strategischer Gasvorräte. Andere, wie Ungarn und die Tschechische Republik, wollen sich dem Kohlemarkt zuwenden. Frankreich möchte die Funktionsweise des europäischen Strompreismechanismus ändern“, sagen Giovanni Sgaravatti, Simone Tagliapietra und Georg Zachmann von der Denkfabrik Bruegel. 

Bisher bezogen sich die Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation hauptsächlich auf die Energiepreise. Doch auch in anderen Bereichen erfordern die Auswirkungen des Krieges ein Eingreifen, besonders im landwirtschaftlichen Sektor. Spanien hat zum Beispiel den Supermärkten erlaubt, die Anzahl bestimmter Produkte pro Verbraucher zu begrenzen, um die Verfügbarkeit der Güter für alle zu sichern. Griechenland hat die Mehrwertsteuer auf Dünger - wovon Russland einer der Hauptexporteure ist - von 13 % auf 6 % heruntergesetzt.

Es ist zu erwarten, dass sukzessive immer mehr Bereiche betroffen sein werden. „Wenn die Energiepreise zu lange Zeit hoch bleiben, schlägt sich dies in den Produktionskosten der Unternehmen nieder, und damit auch in deren Preisen“, erklärt Nadia Gharbi. Bedeutet das immer mehr Steuersenkungen und Preisregulierungen? Diese Maßnahmen allein werden nicht ausreichen, da sie das Problem nicht an der Wurzel packen.

Mehrere Faktoren spielen eine Rolle: der geopolitische Kontext, der wahrscheinlich weiterhin durch den Krieg instabil bleibt; die Abhängigkeiten, die aus der Globalisierung des Handels resultieren; sowie die sich fortsetzenden tiefen Veränderungen in unserer Wirtschaft. Denn diese soll sich an den Klimawandel anpassen und von fossilen Energieträgern loslösen. Daher rührt das Paradoxon von Jonathan Marie und Virginie Monvoisin von den Économistes Atterrés („Empörte Ökonomen“): „Die Inflation ist zwar ein Indikator für schwerwiegende wirtschaftliche Probleme, aber die Priorität der Wirtschaftspolitik sollte nicht in der Inflationsbekämpfung liegen.“

Inflationsbekämpfung auf Kosten des Klimaschutzes?

Besteht nicht das Risiko, dass einige der Maßnahmen gegen die Inflation sich negativ auf die ökologische Wende auswirken? Sind beide Kämpfe miteinander vereinbar? „Der Schutz der am meisten gefährdeten Haushalte ist [angesichts der Inflation] unerlässlich, doch es ist ebenso wichtig, dass die Maßnahmen [...] nicht die Anreize zur Weiterentwicklung der sauberen Energie verringern“, betonte Laurence Boone, Chefökonom der OECD, im letzten Oktober. Einigen von Frankreichs Nachbarn gelingt es, beide Anforderungen miteinander zu vereinen.

In Deutschland hat die Bundesregierung das 9-Euro-Ticket eingeführt, mit dem die Bürger drei Monate lang für nur 9 € monatlich die lokalen und regionalen öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können. Schweden hat die Zuschüsse für den Kauf elektrischer Fahrzeuge erhöht. Rumänien subventioniert die Anschaffung energieeffizienter Lösungen für zuhause. Und da ein niedriger Verbrauch immer noch die größte Einsparung ist, hat Italien die Raumkühlung in öffentlichen Einrichtungen auf 25°C beschränkt.]

(1) Dies galt für Haushalte mit einem jährlichen Einkommen von unter 19.800 €, zuzüglich 3.600 € pro weiterer Person des Haushaltes.

👉 Originalartikel auf Alternatives Economiques
In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network

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