Während seit Jahrzehnten die Steigerung des Wirtschaftswachstums in Europa höchste Priorität hat, hat sie sich ebenso als Katalysator für soziale Ungleichheit und Klimawandel entpuppt. Wenn wir wirklich eine sozial und ökologisch gerechte Wirtschaft schaffen wollen, müssen wir unser jetziges Wirtschaftskonzept radikal umdenken.
Es ist September 2021, das heißt, es bleiben noch neuneinhalb Jahre des „entscheidenden Jahrzehnts“, um unser Wirtschaftssystem von Grund auf zu verändern, um dem Umweltkollaps und einer daraus resultierenden humanitären Katastrophe zu entkommen. In diesem Zusammenhang ist das bornierte Streben nach unendlichem Wirtschaftswachstum eindeutig eine selbstzerstörerische und unvernünftige Wirtschaftsstrategie.
Der jüngste gemeinsame Bericht von Weltklimarat (IPCC) und Weltbiodiversitätsrat (IPBES) empfiehlt, „von einem Wirtschaftskonzept abzurücken, das ausschließlich auf dem BIP-Wachstum beruht“, um Biodiversität und Ökosysteme zu schützen. Der neue IPCC-Bericht entwirft ein realisierbares Klimaszenario (den gemeinsam genutzten sozioökonomischen Pfad 1), das eine Welt beschreibt, in der die Bedeutung des Wirtschaftswachstums allmählich dem Wohlergehen der Bevölkerung weicht, das in den Mittelpunkt gerückt wird.
Doch ist nicht das BIP-Wachstum gerade in Europa entscheidend für die Erhaltung der Kaufkraft, der Sozialpolitik und des allgemeinen Wohlstands? Die Abkehr vom Wachstum ist zwar ganz in unserem Sinne, aber können wir uns einen solchen Schritt wirklich leisten? In meiner kürzlich erschienenen Abhandlung für das ETUI lege ich dar, dass wir das durchaus schaffen können.
Eine unter Politikern weit verbreitete Überzeugung lautet in etwa so: Wirtschaftswachstum mag für die Biosphäre zwar zunehmend destabilisierend sein, aber für den Wohlfahrtsstaat ist es stabilisierend. Ohne Wachstum gäbe es keinen Wohlfahrtsstaat, behaupten sie.
Die Bewältigung des Klimawandels mit dem BIP als Richtwert ist so, als würde man versuchen, ein Objekt mit den Händen festzuhalten, während man es mit dem Fuß immer weiter wegschiebt.
Diese vermeintliche gegenseitige Abhängigkeit zwischen Wohlfahrtsstaat und Wachstum wird durch zwei wesentliche Knotenpunkte bestimmt: Wachstum und Beschäftigung sowie Wachstum und Einkommen. In der Theorie garantiert der erste Knotenpunkt, dass mit dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auch
die Beschäftigungsquote wächst, so dass Sozialbeiträge steigen und die Sozialpolitik angemessen finanziert werden kann.
Dies ist jedoch nicht mehr der Fall: Deutschland galt zumindest in den letzten dreißig Jahren weitestgehend als die europäische Erfolgsgeschichte in puncto Beschäftigung und Wachstum, doch der längste und stärkste Beschäftigungsaufschwung des letzten halben Jahrhunderts, zwischen 2006 und 2018, ging in Deutschland mit einem Rückgang des realen BIP einher.
Diese absolute Entkopplung gilt auch für den Euroraum als Gesamtheit, weil das reale BIP wächst und die Beschäftigungsquote sinkt (z. B. zwischen 2002 und 2005 oder zwischen 2010 und 2012). In der Europäischen Union als Gesamtheit wird dies sogar noch offensichtlicher: Dort ging der stärkste Anstieg der Beschäftigungsquote der letzten zwei Jahrzehnte (zwischen 2013 und 2019 von 64 auf 69,3 Prozent) mit einem nur moderaten BIP-Wachstum (rund 2 Prozent) einher, das zudem Schwankungen ausgesetzt war. Ebenso besteht eine Diskrepanz zwischen dem Volkseinkommen und dem Individualeinkommen infolge der zunehmenden Ungleichheit, sowie zwischen dem BIP und der Steuerkraft, was dem heftigen sozialen und steuerlichen Wettbewerb in Europa geschuldet ist.
Noch grundlegender ist die Erkenntnis, dass die Schlüsselindikatoren für die Entwicklung des Menschen Arbeitsprod…