Lust auf Internat? Roma-Kinder in Budapest. Foto: Zoltan Balogh (Ungarn) / photo.romadecade.org

Zwangsintegration: Option für Roma?

Nach einer Serie von Zwischenfällen wird über die Situation der Roma in der ungarischen Presse heftig debattiert. Die Essayistin Eszter Babarczy erläutert hier eine Idee, die sich ihren Weg bahnt: Die jungen Leute aus ihrem sozialen Umfeld herausholen, um ihnen neue Chancen zu geben.

Veröffentlicht am 27 Oktober 2009 um 16:10
Lust auf Internat? Roma-Kinder in Budapest. Foto: Zoltan Balogh (Ungarn) / photo.romadecade.org

Mein Chefredakteur hat mich gebeten einen "politisch korrekten" Artikel zu der Debatteüber das Problem der Integration der Roma zu schreiben. Nichts leichter als das, dachte ich mir: "Kein Problem. Wenn die Rassisten aufhören würden, den Roma für alles und jedes die Schuld zuzuschieben, dann wäre das Problem geregelt." Ach ja? Natürlich nicht. Die letzten fünfzehn Jahre haben gezeigt, dass solch eine Haltung nicht nur die Probleme nicht löst, sondern gar den rassistischen Diskurs innerhalb der Gesellschaft verstärkt. Der Erfolg der [rechtsradikalen Partei] Jobbik ist größtenteils auf diese naive Haltung zurückzuführen.

Die Roma, die sich von der Gesellschaft abschotten und in Ghettos leben, sind nicht grundsätzlich kriminell. Sie leben in einer in verschiedene Klane geordneten Gesellschaft und leiden in ihren Dörfern mehr unter den "schlechten Familien" (die jeden bestehlen, auch Roma) und den Wucherern (ebenfalls Roma) als unter Diskriminierung. Die überwiegende Mehrheit hat gar keine Gelegenheit, Diskriminierung zu erfahren. Für sie führt kein Weg aus ihren Ghetto-Dörfern.

Schule finanziell nicht machbar

Die Frage, die die ungarischen Intellektuellen spaltet, lautet: Wer soll die Wege öffnen? Ich glaube nicht, dass die Roma in ihren Ghettos dazu allein imstande sind. Die Organisationen der Zigeuner dienen nur als Tribüne für ihre korrupten und machthungrigen Vertreter. [Zwei Roma-Vertreter sind vor kurzem der Veruntreuung öffentlicher Gelder beschuldigt worden]. Solche Posten sind nur Spiegelbild der Heuchelei und bieten keinerlei Lösungsansätze.

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Nun mal ernsthaft: Wem will man denn weismachen, dass ehrliche, aber arbeitslose Menschen ihre Kinder aufs Gymnasium schicken können? Wer so etwas glaubt, hat noch nie eine Roma-Familie gesehen. Diese Familien leben ohne Bargeld (außer sie stehlen es). Abgesehen von Almosen und dem, was man sich zusammenklauben und –basteln kann, ist ihnen alles, wofür man bezahlen muss, unerreichbar. Die Roma-Kinder können sich in der Schule anstrengen wie sie wollen, sie sehen nicht, was ihnen die Mühe nützen soll: Nie werden sie das Dorf verlassen, denn es gibt kein Geld fürs Internat, für Bahnkarten oder Schulbücher.

Haft schreckt nicht ab

Die erwachsenen Roma "erziehen" zu wollen, ist ebenfalls ein Ding der Unmöglichkeit. Die Familien, die trotz allem in dieser Kultur der Misere anständig leben wollen, fürchten die kriminellen Gruppierungen. Sie wissen aber auch, dass sie im Fall von Problemen nur auf ihre Familienmitglieder zählen können (darunter bestimmt der eine oder andere, der den Weg der Kriminalität eingeschlagen hat). Um die Menschen von der Kriminalität abzubringen, sind Gefängnisstrafen das falsche Mittel. Sie schrecken nicht ab. Und was wirklich abschreckend wirken könnte, davon haben wir von der weißen Mittelschicht keine Ahnung. Um das herauszufinden, bräuchten wir Anthropologen und Kenner der Roma-Kultur. Und vor allem die Zusammenarbeit mit der Roma-Gemeinschaft selbst.

Und zuletzt: Nein, die Roma werden in naher Zukunft nicht arbeiten. Es ist irrealistisch, von ihnen zu erwarten, dass sie Arbeit finden. Denn selbst wenn sie welche suchen würden, würden sie keine finden. Und zwar nicht, weil sie diskriminiert werden, sondern weil es auf dem ungarischen Land derzeit keine Arbeit gibt. Es gibt schon keine für qualifizierte Arbeiter, also für unqualifizierte...

Junge Roma ins Internat

Der langsame Aufstieg der Afroamerikaner begann mit der Schaffung von Schulen, in die man die kleinen schwarzen Kinder aus den Armenvierteln mit Stipendien lockte. Michelle Obama hat solch eine Schule besucht. Im Gegensatz zu den meisten Soziologen fände ich es nicht skandalös, wenn man die Roma-Kinder in Internate stecken würde. Ich kenne eine Roma Familie sehr gut. Sie wurde von jungen Menschen gegründet, die im Internat erzogen wurden. Sie sind dankbar dafür, dass sie den zerstörerischen Kräften ihres Milieus entrissen wurden.

Wenn wir nicht JETZT den 10 bis 12-Jährigen helfen, sich zu integrieren, dann schaffen wir - die Ungarn der Mittelschicht - aus unverantwortlicher Fahrlässigkeit die Spannungen von Morgen. Genauso wie wir es seit zwanzig Jahren gemacht haben, indem wir wegsahen und unsere absolute Ohnmacht hinter einem politisch korrekten Diskurs versteckten. Der kostet ja auch nichts.

DEBATTE

Die "Zigeunerfrage" spaltet die Intellektuellen

Seit einem Jahr wird Ungarn von Verbrechen erschüttert, deren Opfer oder Täter Roma sind. Auf ihrer Webseite hat Heti Világgazdaság (HVG) eine Debatte ins Leben gerufen, um Lösungsvorschläge für die "Zigeunerfrage" zu finden. Einer der Forumsteilnehmer, der Soziologe und Roma Sándor Romano Rácz tritt für einen "geduldigen und zwingend langwierigen Dialog" mit den Roma ein. Die Zigeuner seien nicht nur eine andere ethnische Gruppe, sondern auch eine andere Zivilisation: Sie leben am Rand der Gesellschaft im "schützenden Kokon der Gruppe". Im heutigen Ungarn könnten aber nur die Musiker stolz sein, dieser Gruppe anzugehören — deshalb gäben sich auch immer mehr Roma als Musiker aus. Romano Rácz betrachtet zudem die Roma-Organisationen als "der Roma-Mentalität fremd".

Der Ökonom János Stadler meint, dass die Vorurteile gegenüber den Roma sich vor allem auf ihren „wilden“ Lebensstil beziehen, der Armut und Rückständigkeit fortbestehen lässt. Trotz ihrer heutigen Sedentarisierung leben die Roma heute noch nach den Werten nomadischer Völker: "Sie klauen in Gemüsegärten oder verprügeln die Schullehrerin". "Wir müssen mit ihnen die Gründe all dieser Untaten untersuchen", schreibt Stadler. "Bestrafen reicht nicht. Die Mentalitäten müssen sich ändern. Sie müssen die Gelegenheit beim Schopfe fassen und sich in die Gesellschaft integrieren. Und damit aufhören sich ständig als Sündenbock darzustellen und herunterzuleiern, dass die Gesellschaft sie hassen würde."

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