Analyse Die europäer und die Covid-19 | Ukraine

Zwischen Freiheit und Rebellion liegt ein schmaler Grat: Das Coronavirus bringt die Ukraine an den Rand der Erschöpfung

Bis Ende 2020 hat das Virus mehr Leben gekostet als der Konflikt mit Russland. Das Land kämpft noch immer mit dem Höhepunkt der Pandemie, wagt aber keinen strengen Lockdown, weil wirtschaftliche Argumente der politischen Gegner die Debatte bestimmen. Die ukrainische Journalistin und Schriftstellerin Nataliya Gumenyuk macht auf eine paradoxe Situation aufmerksam: je mehr Menschen erkranken, desto weniger sind sie bereit, die eher moderaten Regeln einzuhalten.

Veröffentlicht am 29 Dezember 2020 um 16:04

„Wenn ich eine Gesichtsmaske trage, bekomme ich Tuberkulose“ – hielt die Besitzerin eines kleinen Lebensmittelgeschäfts in einem Dorf in der Mitte der Ukraine einem Lokalpolizisten entgegen. Er überwachte die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften. Der Polizist hätte eine Geldbuße von bis zu 500 Euro verhängen können – in der ländlichen Ukraine ein unfassbar hoher Betrag.  In der Region gab es aber keine Corona-Fälle (laut Bestätigung des Dorfarztes), also beschloss der junge Polizist, es bei einer Verwarnung zu belassen. 

Seit März ist das Tragen von Masken in geschlossenen Räumen und in öffentlichen Verkehrsmitteln Pflicht. Gegen Ende des Sommers schloss ich gerade einen Dokumentarfilm ab, in dem ich berichtete, wie in systemrelevanten Berufen tätige Ukrainer durch die Pandemie kamen. Der Lokalpolizist war einer der Protagonisten. Die Atmosphäre hatte sich gegenüber den ersten Tagen des Lockdown im Frühling deutlich verändert. Damals hatten die Dorfbewohner Angst vor einer „ausländischen Krankheit“ und blieben lieber zu Hause.  

Aber je länger die Pandemie dauerte und je mehr Fälle in der Ukraine diagnostiziert wurden, desto stärker wurde mein Eindruck, dass mehr Leute unterwegs waren, auch in der Hauptstadt.  

Es hatte den Anschein, als ob die Menschen der vielen Corona-Informationen überdrüssig seien und beschlossen hätten, die Nachrichten schlicht zu ignorieren. Ganz ehrlich: auch ich habe Telegram-Kanäle des Gesundheitsministeriums zum Coronavirus auf stumm gestellt, die bei ihrer Eröffnung extrem beliebt waren. In Zusammenarbeit mit öffentlich-rechtlichen Medien der Ukraine erwähnte ich, wie Kollegen darum rangen, „noch eine Corona-Story“ zu bringen. Der Lockdown ist die neue Normalität und die immer stärkeren Auswirkungen auf einzelne Personen waren keine Neuigkeit mehr.  

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Aber trotzdem war die Kranführerin, die ich kurz vorher gefilmt hatte, entlassen worden. Sie hatte dagegen protestiert, dass ihr Arbeitgeber – der das Monopol auf Bauarbeiten in einer Provinzstadt hatte – während des Lockdown die Löhne kürzte. Ihr einziger Sohn konnte kein vernünftiges Einkommen erzielen, weil ihm die Arbeit als Saisonarbeiter in Polen verwehrt wurde. Laut UNOCHA (dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten) steht der Ukraine wegen der Corona-Pandemie womöglich die schwerste Rezession seit Jahrzehnten bevor.

Die Ukrainer haben schon viele schwere Zeiten durchlebt. Bei unseren Recherchen zu Beginn der Pandemie stellten mein Team und ich daher fest, dass sie für die Bevölkerung sie nur als ein weiteres Glied in einer langen Kette von Krisen war, die sie wie gewohnt überleben würde. Finanzielle Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Lockdown und Arbeitsplatzverlust waren für viele das Hauptproblem. Schnell dominierte eine wirtschaftsorientierte Weltsicht die politische Diskussion.

Zwischen Populismus und öffentlicher Meinung  

Eine der größten Schwächen der aktuellen ukrainischen Regierung und ein definierendes Merkmal ist wohl ihre Anfälligkeit für Kritik. Vor den Wahlen war der ukrainische Präsident und ehemalige Comedian Vlodymyr Zelensky der beliebteste Prominente des Landes. Mit der Unterstützung der Bevölkerung gewann seine Partei Слуга народу („Diener des Volkes“) die Parlamentswahlen. Seine Popularität ist auch das einzige Druckmittel, das er als politischer Außenseiter einsetzen kann. Er hat versprochen, etwas gegen die großen Finanzkonzerne zu unternehmen, die die Wirtschaft kontrollieren, und ist nun in einem feindlich gesinnten Medienumfeld gefangen, das von genau diesen Finanzkonzernen kontrolliert wird. Trotzdem ist Zelensky noch immer der populärste Politiker im Land und weit beliebter als seine politischen Gegner. 

Bis Ende 2020 sind fast 15.000 Ukrainer am Coronavirus gestorben – damit hat das Virus mehr Leben gekostet als der Konflikt mit Russland, in dem seit 2014 13.000 Menschen getötet wurden.

Die Kommunikationsstrategie der Regierung lautet: wir sind bereit, auf das Volk zu hören, und passen unsere Maßnahmen an die Umfragen an. Mancher betrachtet das als Populismus, andere sehen darin eine echte Demokratie für eine post-autoritäre Gesellschaft. In den ersten zwei Monaten des Lockdown demonstrierten die ukrainischen Regierungsbehörden zwar Stärke und kontrollierten die Situation, aber mit jedem weiteren Monat lockerten sie die Einschränkungen oder hörten zumindest auf, Ansprüche zu stellen. Mitten im Herbst hatte die Corona-Müdigkeit ihren Höhepunkt erreicht, und im gleichen Zeitraum begann auch der steile Anstieg der Corona-Infektionen.

Am 26. Oktober fand die erste Runde der Kommunalwahlen statt: Alle Bürgermeister und Dorfvorsteher standen zur Wahl. Volodymyr Zelensky hatte bei den Präsidentschaftswahlen im April 2019 einen Erdrutschsieg errungen und seine Partei „Diener des Volkes“ hatte drei Monate später, im Juli 2019 eine Parlamentsmehrheit erreicht.  Daher waren die Kommunalwahlen ein echter Test für seine Unterstützung in der breiten Öffentlichkeit. In keiner der Provinzhauptstädte hatte er Verbündete. Die Bürgermeister beschlossen, die Anti-Lockdown-Karte zu spielen und dadurch zu rebellieren. Im ganzen Land begann ein Kandidat nach dem anderen, die Anordnungen der Zentralregierung zu kippen und zu behaupten, die Einschränkungen seien verfassungswidrig – was teilweise sogar stimmt. Die Oppositionsparteien auf verschiedenen Seiten nutzten das „schlechte Management der Pandemie“ als Argument für ihre Kampagne.

Die Kritik ist teilweise durchaus berechtigt – während des monatelangen Lockdowns hätte die Ukraine ihr Gesundheitssystem stärken können, aber die Zeit wurde verschwendet. Die grundlegenden Dinge wie Masken und Tests sind vorhanden, aber die Krankenhäuser im ganzen Land haben nicht genügend Sauerstoff- und Beatmungsgeräte, die Verhaltensrichtlinien für die Bevölkerung sind widersprüchlich und zum Ende des Herbsts waren die Krankenhäuser fast voll. Die finanzielle Unterstützung für Kleinunternehmen ist bei weitem nicht ausreichend (270 Euro), liegt aber immer noch über dem Mindestlohn in der Ukraine (150 Euro pro Monat).

Corona spaltet 

„Wie Italien“, „Chaos“, „Katastrophe“ – diese Schlagzeilen tauchen in der ukrainischen Presse so regelmäßig auf, dass wir uns bereits daran gewöhnt haben. Bewegt man sich ausschließlich in der Informationsblase ukrainischer Medien, dann scheint die Situation schlimmer als irgendwo sonst auf der Welt.   Die Medien betonen stets „wie gespalten das Land ist, unter anderem zum Thema Coronavirus“ und Kandidaten aus allen politischen Lagern ergehen sich in kollektivem Selbstmitleid.  International ist die Situation eine andere, vor allem im Hinblick auf die Gräben entlang der Parteilinien. 

„Das Tragen von Masken ist hier in den USA zu einem politischen Thema geworden“, warnte mich der Chefredakteur einer großen amerikanischen Zeitschrift, als ich im Oktober 2020 dort eintraf, um über die Präsidentschaftswahlen zu berichten. Anders als in Kiew sah ich in Washington DC (wo Joe Biden später eine überwältigende Mehrheit errang) endlich die meisten Menschen selbst im Freien Masken tragen. Restaurants handhabten die Abstandsregeln in Innenräumen sehr streng und viele Geschäfte waren geschlossen. Wenn ich Trump-Gegner ansprach, musste ich vorsichtig nachfragen, ob ich sie tatsächlich persönlich treffen konnte, weil ich filmen wollte. Einer der berühmten Kolumnisten sagte ganz offen, allein diese Frage zu stellen sei bereits unethisch. 

Im ländlichen Wisconsin, nur wenige Hundert Kilometer von DC entfernt und eher den Republikanern zugeneigt, sieht alles ganz anders aus.  „Sie brauchen die Maske hier nicht, nehmen Sie sie ab“ – sagte der Besitzer eines Sportgeschäfts zu mir, das in den Regalen vor allem Schusswaffen ausgestellt hatte. Er beschwerte sich lautstark über „blöde, sozialistische Einschränkungen“, die die Wirtschaft lahmlegten. Eine ältere Dame mit einem Trump-Schild an der Tür bat mich – eine völlig fremde Person – in ihr Haus, wo ihr Mann im Rollstuhl saß und ganz offensichtlich krank aussah. Die Familie glaubte nicht, dass Corona mehr als eine gewöhnliche Grippe sei. 

Den stärksten Eindruck auf mich machten jedoch die Wahlkampfveranstaltungen Donald Trumps mit seinem Sohn Donald Trump Jr. in Florida. Bei der ersten waren fast 30.000 Besucher anwesend und die meisten trugen keine Masken. „Gäbe es das Coronavirus tatsächlich, müssten halb Mexiko oder Indien längst tot sein, denn dort leben die Menschen in Slums“, war einer der Kommentare. Das stärkste und populärste Argument gegen Sicherheitsmaßnahmen war jedoch, dass die Masken und die Einschränkungen Zeichen der Unterdrückung seien und dass Menschen, die im „Land der Freiheit“ lebten nicht Sklaven ihrer Regierung sein könnten. 

Als ich nach fast einem Monat in den USA wieder nach Hause kam, hatte ich das Gefühl, das Coronavirus sei schlussendlich in der Ukraine angekommen. Anders als zuvor kannte jeder jemanden, der krank oder gar gestorben war. 

Aber an manchen Orten lief noch immer die nächste Runde der ukrainischen Kommunalwahlen. Die Kandidaten der Partei des Präsidenten trugen in keiner der großen Städte oder Provinzhauptstädte den Sieg davon, gewannen aber die Mehrheit in den Dorfgemeinderäten. Die ukrainische Regierung verhängte einen so genannten „Wochenend-Lockdown“ – Restaurants, Einkaufszentren und Kinos sollten an Samstagen und Sonntagen geschlossen bleiben. Nach dem ersten „Lockdown-Wochenende“ war der öffentliche Druck aber so groß, dass die Behörden die Einschränkungen wieder aufhoben. Bei seinen Erwägungen, was über die Feiertage zu tun sei, hatte der Premierminister so große Angst vor einem Aufstand, dass er es nicht wagte, vor dem orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar strenge Vorschriften einzuführen.

Der Bürgermeisterkandidat in Lviv, einer der größten Städte der Ukraine, die auch bei Touristen sehr beliebt ist, erließ eine Verordnung, in der er „Samstag und Sonntag zu Werktagen“ erklärte. Einige Läden in der Hauptstadt nahmen dies auf und beschlossen, den Samstag als „verlängerten Freitag“ zu bezeichnen.  Was mich besonders wunderte, war die Tatsache, dass diese Ideen unter so genannten ukrainischen Unterstützern der Demokratie so populär waren: Antikorruptions-Aktivisten, Verteidiger der Menschenrechte, berühmte unabhängige Journalisten, vereint in ihrer Verachtung für den Präsidenten, mit einem Hauptargument: Die Regierung habe kein Recht, freidenkende Ukrainer zu unterdrücken und gleichzeitig die Wirtschaft zu zerschlagen. 

Im Gegensatz zu den USA und zum Glück für die Ukraine gibt es eine deutliche Parteilinie, anhand der man Corona-Leugner definieren kann. Natürlich sind dies nicht dieselben Menschen, die die Einschränkungen ablehnen, weil sie der Wirtschaft schaden. 

Impfgegner als neue Bedrohung

Auch aus anderen Gründen könnte die Polarisierung durch das Coronavirus zu einem ernsten Problem werden.  Laut der WHO hat die Ukraine die niedrigste Impfquote in Europa und weltweit.  

Neben der Verbreitung konspirativer Gedanken hat sich Facebook zu einer wichtigen Informationsquelle entwickelt, denn die Ukrainer trauen ihrer Regierung traditionell nicht über den Weg.  Gleichzeitig besteht die einzige klare Strategie der Regierung zur Eindämmung des Virus darin, auf die Entwicklung eines Impfstoffes zu warten. Die Behörden haben den großen Pharmakonzernen hinterhergejagt, aber da die Ukraine nicht unbedingt ein reiches Land und sogar eines der ärmsten in ganz Europa ist, könnte sich die Sache noch mindestens ein Vierteljahr hinziehen. Das Fehlen einer eindeutigen Kommunikationsstrategie des Staates zu Impfstoffen erweckt außerdem den Eindruck, die Behörden gingen ganz selbstverständlich davon aus, dass die Menschen sich einfach fügen werden. Laut einer neuen Umfrage sind 40 % der Ukrainer nicht bereit sich impfen zu lassen, selbst wenn es nichts kostet. Leider liefert die Studie keinerlei Aussagen dazu, warum das so ist. 

Abgesehen vom Kampf gegen Verschwörungstheorien (in Verbindung mit Bill Gates, George Soros usw.) besteht auch das Risiko, dass sich die Ukraine zum Schlachtfeld im weltweiten Impfstoff-Wettrennen zwischen dem Westen und Russland entwickelt. Jetzt schon betreibt das russische Staatsfernsehen eine aggressive Kampagne, die den russischen Impfstoff Sputnik V bewirbt und die in den USA und Großbritannien hergestellten Impfstoffe abwertet. In den Talkshows der von prorussischen Politikern in der Ukraine kontrollierten Fernsehsender und Medien war diese Darstellung in den letzten Monaten ebenfalls vorherrschend vertreten. Im Nachbarland Russland wurde mit den Impfungen bereits begonnen und das Land ist bereit, den Impfstoff an Verbündete wie Serbien zu liefern. Der Impfstoff von Pfizer/BioNTech ist dagegen noch immer unerreichbar.

Die Ukraine könnte in eine unmögliche Lage geraten: ein Land, dass sich in einem echten Krieg gegen Russland verteidigen muss und nicht in der Lage ist, den Konflikt politisch zu lösen, darf noch nicht einmal daran denken, den russischen Impfstoff anzunehmen. Bis zu fünf Millionen Ukrainer leben in der von Russland annektierten Krim und dem von Russland kontrollierten Donbass. Die Kreml-freundlichen Kräfte in diesen Regionen haben es leicht, den ukrainischen Behörden einen „Tschernobyl-Moment“ vorzuwerfen, wenn diese selbst die Möglichkeit einer Heilung durch den Impfstoff aus politischen Gründen ablehnen. Dies könnte sich zu einer neuen politischen und ethischen Herausforderung entwickeln.

Im Dezember hatte die Ukraine über 15.590 Tote zu beklagen – mehr als in den sechs Jahren des Konflikts mit Russland.  Das Coronavirus polarisiert bei weitem nicht so stark wie der Krieg. Dennoch kann der Konflikt unweigerlich zu einem neuen Einflussfaktor in einem Land werden, das zu viele Kämpfe zugleich ausfechten muss. 

In Zusammenarbeit mit der Heinrich Böll Stiftung – Paris


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