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Europa nach dem Ende von Frieden und Sicherheit

Die Resignation gegenüber dem Krieg in der Ukraine ignoriert nicht nur die anhaltenden Gräueltaten, sondern auch deren Auswirkungen auf die zugrunde liegenden europäischen Narrative. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um politische Lehrmeinungen zu überdenken, sagt der ukrainische Autor und Kurator Vasyl Cherepanyn in seinem Beitrag zur Reihe „Lessons of War. Die Wiedergeburt Europas im Spiegel der Zeit“.

Veröffentlicht am 22 Februar 2024

Der Zweite Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur, abgehalten 1937 in Valencia, der Hauptstadt der Spanischen Republik nach Francos Angriff auf Madrid, wurde zu einem Fanal des kulturellen Widerstands gegen den Faschismus. Mehr als hundert Schriftsteller aus der ganzen Welt nahmen teil. Heute, da wir uns in einem historisch ähnlichen Moment wiederfinden, lohnt es sich, an ihr Engagement für einen „revolutionären Humanismus“, ihren Kampf für Menschenwürde und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu erinnern. Es könnte uns helfen, die Zwangslage besser zu verstehen, in welche Russlands faschistische Invasion und neokolonialer Vernichtungskrieg gegen die Ukraine die Welt gebracht hat. 

Das größte politische Problem für die Delegierten in Valencia war die Nichtinterventionspolitik der westlichen Demokratien, die sie nicht aufhörten, scharf zu verurteilen. Im Gegensatz dazu haben sich die heutigen kulturell und politisch Progressiven im Namen von Nichteskalation und Nichteinmischung in ihre Elfenbeintürme zurückgezogen oder wiegen sich in Tagträumen eines abstrakten Pazifismus, der nichts anderes ist als ein Euphemismus für die Kapitulation vor dem Faschismus. 

Europa ist heute mit einer massiven Herausforderung konfrontiert, einer Bedrohung, die in der Ukraine seit anderthalb Jahren gelebte Realität ist: Was tun angesichts der fortgesetzten Zerstörung? Diese Frage hat viele Dimensionen, sie stellt sich auf der existentiellen, militärischen, politischen, psychologischen, sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen und einer Reihe weiterer Ebenen – ohne dass es irgendeine erlösende Antwort gäbe. Im Gegenteil, diese Frage bringt in jeder Hinsicht nur endlosen Schmerz mit sich. 

Der beste Ausdruck für diese Herausforderung ist vielleicht Edvard Munchs berühmtes Gemälde Der Schrei. In genau einem solchen Moment von Angst, Ungewissheit und Entstellung finden wir uns heute. Das Werk entsprang einer Panikattacke, die Munch 1892 erlitt, und anders als die pseudorationalen Kalküle, die wir heute anstellen, wäre Panik wohl die angemessene Reaktion auf Russlands Kriegsverbrechen. Die internationale Gemeinschaft scheint die Greuel zunehmend als unvermeidlich zu akzeptieren, eine Reaktion, die vorher absolut undenkbar gewesen wäre. Panik wäre vielleicht eine politisch effizientere Reaktion, weil sie ein internationales Handeln auslösen könnte, das so dringend benötigt wird.

In der Öffentlichkeit lassen sich zwei Zugänge zum Krieg in Europa unterscheiden, ein visueller und ein diskursiver; sie reflektieren die vorherrschenden soziopolitischen Einstellungen zu den fortlaufenden Greueltaten. Der erste Zugang ist Kriegspornographie, eine Art Romantisierung von Ruinen, die obszön ist wie jede Pornographie. Hier dienen die täglich durch den Krieg produzierten Trümmer als typisches Inszenierungsmittel für die Medien – sie halten die Aufmerksamkeitsökonomie in Gang. Der zweite Zugang besteht in der politischen Phantasie des Wiederaufbaus nach dem Krieg. Psychologisch ist das eine sehr verführerische Strategie, weil sie es erlaubt, die unerträgliche Wirklichkeit des Krieges zu verdrängen und sich stattdessen auf das zu konzentrieren, was danach kommt, während der Krieg ohne Aussicht auf ein Ende weiter wütet. 

Europa sieht sich vor einer Krise, deren Folgen den Rest des 21. Jahrhunderts bestimmen werden. Daher ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt, dass Europa seine konstitutiven Narrative in den Blick nimmt und sie revidiert. Es sind Geschichten, die sich die Europäer seit Jahrzehnten erzählen und sich damit selbst und andere täuschen. Dem jetzigen historischen Moment wurde der Name „Zeitenwende“ gegeben, doch es bietet sich ein genauerer Begriff an, entlehnt aus der europäischen Kulturgeschichte: das, was Aristoteles „Peripetie“ (περιπέτεια) nannte. Die Peripetie bezeichnet einen dramatischen Umschwung, einen drastischen Wechsel von einem Zustand der Dinge zu seinem Gegenteil. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist durch eine ödipale Logik gekennzeichnet.


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Die Aufgabe Europas in dieser Zeit ist es zuallererst, seine Gewohnheit wegzusehen zu überwinden, um wieder sehen zu lernen – das heißt, es muss die Narrative, die für seine Geschichte konstitutiv sind, einer grundlegenden Revision unterziehen, denn sie sind entscheidend für seine Zukunft. 

Genozid

Im ersten Narrativ geht es um den Genozid. Die politische Integration Nachkriegseuropas ist auf die Idee einer gemeinsamen Verantwortung für den Holocaust gegründet. Diese Idee wurde durch den Angriff Russlands auf die Ukraine auf eine brutale Probe gestellt. Neben der Einrichtung von Filtrationslagern und unzähligen Folterkammern, neben der Durchführung von Entführungen und Massendeportationen hat das russische Militär seit seinem Einmarsch im Februar 2022 etwa 1600 ukrainische Kulturstätten beschädigt oder zerstört. Russland zielt bewusst auf die Kultur des Landes als Teil seiner Angriffe auf die zivile Infrastruktur. 

Nach Rafal Lemkin, der den Begriff „Genozid“ prägte, zählt die Zerstörung des kulturellen Erbes zu den Methoden des Völkermords. Für ihn sind Barbarei (gegen Menschen) und Vandalismus (gegen Kultur) wesentliche Elemente des Genozids. Die zweite Komponente wurde allerdings nicht in die UN-Konvention von 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes aufgenommen. Die Gründe hierfür waren offensichtlich kolonialistisch, denn mehrere Westmächte befürchteten, dass ihre indigenen Völker (und ehemaligen Sklaven) das Gesetz gegen sie richten könnten. Stattdessen verabschiedete die UN 1954 die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten – ein Kompromiss, der das Problem völlig verschob. Die wesentliche Frage ist nicht, wie Kultur in Kriegszeiten zu schützen ist (obwohl dies natürlich geboten ist), sondern wie Völkermord verhindert werden kann. Sobald wir Zeugen einer bewussten, großangelegten Vernichtung von Kultur werden, sollten wir davon ausgehen, dass es sich um Völkermord handelt. 

Doch zieht es Europa aus Angst vor „Relativierung“ vor, über Genozid eher im Kontext von Geschichtspolitik, Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung zu reden, anstatt den Begriff auf die Gegenwart anzuwenden. Das ist ein typischer Fall von Schuldabwehr. Als Europa sich mit der russischen Barbarei in der Ukraine konfrontiert sah, kamen Trauma und fetischisierte Schuld für vergangene Greueltaten an die Oberfläche.

Natürlich ist Europas Problem nicht die Relativierung des Genozids, sondern die Weigerung, anzuerkennen, dass das, was in der Ukraine stattfindet - jetzt, in diesem Moment - ein Genozid ist. Stattdessen hören wir, dass es sich nicht um einen Genozid im strengen Sinne handele, dass es an Beweisen fehle, etc. – ungeachtet der Tatsache, dass Russlands Staatsmedien und Regierungsvertreter, einschließlich des Kreml-Führers selbst, den Genozid an den Ukrainern offen und öffentlich zum Ziel erklärt haben. Denn wenn Europa anerkennen würde, dass es schon lange Zeuge eines Völkermords in der Ukraine ist, ohne alles erdenklich Mögliche und Unmögliche zu tun, um ihn aufzuhalten, würde dies heißen, dass es in Wahrheit zulässt, dass dieser Völkermord stattfindet und weitergeht. Auf demselben Territorium wie damals. Wieder. 

Dekolonisierung 

Das zweite Narrativ, das einer Revision bedarf, ist das der Dekolonisierung. „Dekolonisierung“ ist zu einem Schlagwort in der internationalen öffentlichen Debatte geworden. Das grundlegende Problem damit ist, dass Dekolonisierung in apolitischer Form, als kulturelles Phänomen, wahrgenommen und praktiziert wird. Doch es geht nicht einfach um Repräsentation, vielmehr muss Antikolonialismus zuallererst der Gerechtigkeit dienen. Ohne diesen Anspruch bleibt er hohle, modische Rhetorik. Das führt uns Russlands Angriff, der einer tief verwurzelten imperialen Mentalität entspringt, dramatisch vor Augen. Bei der Dekolonisierung geht es nicht einfach darum, sich für das Gedenken und die Repräsentation indigener Erfahrungen einzusetzen (wie wichtig diese auch immer sind), sondern darum, die Täter für ihre kolonialen Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. 

Die gegenwärtig in zahlreichen Kulturprojekten quer durch Europa verbreitete Ethnographisierung dekolonialer Fragen reproduziert oft koloniale Stereotypen, die gut mit der neoimperialen Phantasie ehemaliger und heutiger Kolonialmächte harmonieren, insofern sie suggerieren, dass der Kolonialismus ein abgeschlossener Fall ist und dass es nur noch darum geht, Diversität zu feiern. Aber Dekolonisierung ist keine Multikultiparade internationaler Küchen. Das wäre für die Ukrainer und Krimtataren die schlimmste Auswirkung des Krieges – es würde bedeuten, dass die gerechte Sache der Kolonisierten ganz und gar verloren wäre. 

Ohne Druck von außen wären der Westen oder die Russen kaum an Dekolonisierung interessiert. Doch ist es den Tätern gelungen, die Dekolonisierung auf die Opfer abzuwälzen, den sog. Globalen Süden und Europas postsowjetischen Osten. Wir haben es mit einer pervertierten Perspektive zu tun, in der Dekolonisierung zu einer Art Selbsttherapie für die Kolonisierten geworden ist, reduziert auf persönliche Geschichten und familiäre Wurzeln. In Wahrheit sollte Dekolonisierung genau das Gegenteil sein – eine politische Frage höchster Priorität auf der Agenda der Kolonisatoren. 

Der Kolonialismus muss zuerst und vor allem von den imperialen Mächten bewältigt werden, nicht von den Kolonisierten. Die einzige Kolonialmacht, die je international für ihre Taten bestraft wurde, war Nazideutschland. Doch auch in diesem Fall wurden die Kolonialverbrechen hinter dem irreführenden Begriff der Erinnerungskultur versteckt, als ginge es um Gedenken und nicht um die offenen Wunden, die bis heute Europas politische Realität, einschließlich des gegenwärtigen Krieges, bestimmen. 

Antifaschismus 

Ein drittes Gründungsnarrativ, das einer politischen Wiedereinsetzung bedarf, ist das des Antifaschismus. Antifaschismus ist in der europäischen und globalen Zeitgeschichte von einem zentralen Merkmal zum Attribut einer kleinen politischen Gruppe geworden, einer Subkultur, die am 1. Mai ihre Rituale absolviert. In Wahrheit aber sollte Antifaschismus ein Eckstein des heutigen vereinten Europas und der freien Welt sein. Ohne den Kampf gegen den Nazismus wären die heutige politische Ordnung und ihre Institutionen niemals entstanden! Echte Demokratie ist ihrem politischen Wesen nach antifaschistisch, oder sie ist keine Demokratie. 

Die europäischen Gesellschaften haben sich so an ihre diversen Rechten, Populisten, Autokraten und Autoritarismen gewöhnt, dass Russlands Angriff auf die Ukraine sie kalt erwischt hat. Plötzlich sahen sie sich vor eine grundsätzliche Frage gestellt, die historisch vertraut sein sollte: Wie kann man ein faschistisches Regime (diesmal eine Atommacht) abschrecken und ihm Einhalt gebieten? Es gibt eine heftige Debatte darüber, ob es angemessen sei, das russische Regime als faschistisch zu bezeichnen. Paradoxerweise verstecken sich die Zweifler hinter einer Überhistorisierung des Phänomens, und zwar nicht, weil es ihnen an Gründen mangelte, sondern weil es zu viele gibt, die dafür sprechen. 

Es ist auffällig, wie bewusst und offen sich russische Führung und Militär in ihrem Krieg gegen die Ukraine aus dem Fundus der Geschichte bedienen. Wie die Nazis sprechen sie einem Volk das Existenzrecht ab, um es vernichten zu können, gleichzeitig rechtfertigen sie ihre Invasion als „Entnazifizierung“, sie stilisieren ihren einseitigen Angriff als Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Kriegs“ (schon vorher war der Slogan можем повторить, „Wir können es wieder tun“ verbreitet). All dies zielt darauf ab, die europäische Ordnung, die auf dem Sieg über den Nazismus beruht, zu untergraben, EU und NATO zu schwächen und die Kontrolle über Europa zurückzugewinnen, indem es abermals geteilt wird. 

Russlands Krieg gegen die Ukraine macht ein Gegenmittel dringend erforderlich. Der Antifaschismus muss international wiedereingeführt werden als Basis sowohl für staatliche als auch für zivilgesellschaftliche Politik. Er stellt keine spezifische Position innerhalb des politischen Spektrums dar, sondern ist die Bedingung für die Existenz eines solchen Spektrums. Hier hat Europa eine besondere historische und politische Verantwortung und könnte kraft ihrer das erreichen, was Aristoteles „Anagnorisis“ (ἀναγνώρισις) nennt‚ ein Wiedererkennen im Sinne eines Umschlagens von Unkenntnis zu Kenntnis, ein Wiedererkennen nicht einfach einer Person, sondern auch dessen, wofür diese Person steht. 

Heute können wir nur vorsichtig hoffen, dass ein solches Wiedererkennen von Europa und von dem, wofür es steht, den Weg ebnet von der gegenwärtigen Tragödie des Krieges zu einer ganz Europa erfassenden politischen Katharsis. Doch die Hoffnung liegt ganz unten in Pandoras Büchse.

🤝 Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit Eurozine.

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