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In Odesa habe ich einige neue medizinische Begriffe gelernt, wie ‚Tourniquet‘ (Stauschlauch), ‚HALO Chest Seal‘ (Thoraxverschlusspflaster) und ‚B.I.G.‘ (Knocheninjektionspistole).
Dinge, die für das Leben von schwer verwundeten Soldat*innen auf dem Schlachtfeld von großer Bedeutung sind. Einmal während des Krieges [der Bosnienkrieg, in dem der Autor kämpfte, Anm. d. Red.] habe ich mit meinem langärmeligen Hemd einen Druckverband improvisiert und die Blutung eines Mannes gestoppt, der von einer nicht detonierten 120-mm-Granate in den Oberschenkel getroffen wurde. Die kleine Granate hatte das Dach, eine vorgefertigte Bauplatte und zwei Betonplatten durchschlagen (der Rest ist in meinem Buch „Under Pressure, Pod Pritiskom“ beschrieben). Als Ćerim, ein anderer Mann, schwer in der Brust verwundet wurde, hatten wir kein Thoraxverschlusspflaster, aber wir hatten in meiner Einheit eine gute Gruppe von Sanitäter*innen wie Enes Hasanagić. Das war gegen Ende des Krieges, im Jahr 1995.
In Odesa brachten wir auch weiße, wasserdichte Leichensäcke für die Leichen, und Fischeranzüge – ebenfalls aus wasserdichtem Neopren – mit Stiefeln: eine Lieferung für den Teil von Cherson, der nach der Zerstörung des Kachowka-Damms vom Dnepr überflutet wurde.
Die Schwäche eines geschriebenen Textes zeigt sich unter anderem darin, dass er die Realität, die man mehrere Tage lang in der Ukraine erlebt hat, nicht vollständig wiedergeben kann. Dennoch ist es einen Versuch wert, diese Realität, in der man sich befand und die man nur knapp hinter sich gelassen hat, durch Sprache zu beschreiben.
Sobald ich die Grenze zwischen Polen und der Ukraine vom Grenzübergang Korczova-Krakovets aus auf der breiten Landstraße überquerte, spürte ich eine große Ruhe in mir aufsteigen. Eine Ruhe, die uns überragte, so wie die Bäume die Straße überragten. In der Ukraine schien alles anders zu sein, obwohl Polen ganz ähnlich, ja sogar gleich war. Wir fuhren zügig durch die Landschaft der Ukraine, und die Bilder zogen blitzschnell vorbei.
Vielleicht war es das Grün, die Üppigkeit und die Größe der Bäume, Städte, Dörfer, Flüsse und Seen, die mir das Gefühl gaben, mehr in die Realität einzutauchen, als wenn ich in Berlin oder Sarajevo gewesen wäre; vielleicht lag es daran, dass Schönheit im Auge des Betrachtenden liegt, aber die Ukraine ist die Schönheit selbst, und sie hat sich in meine Augen und meine Erinnerung eingeprägt. Wie man so schön sagt: Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir übernachteten in einem Gasthaus am Straßenrand in der kleinen Stadt Zoločiv in der Nähe von Lviv. Abends regnete es in Strömen, und am Morgen fuhren wir weiter zu unserem Ziel.