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Der serbische Präsident Aleksandar Vučić in einer virtuellen Wahlkampfkundgebung während der Abriegelung des Covid-19 am 16. Mai 2020.

Herdendemokratie

Das Coronavirus hat gezeigt, wie verletzbar unsere Freiheiten sind und wie wenig es bedarf, um sie zu verlieren. Regierungen und Bürger haben gleichermaßen dazu beigetragen, die durch Covid-19 verursachten gesellschaftlichen Herausforderungen in eine Manifestation von Autoritarismus und gesellschaftlicher Fragmentierung zu verwandeln, so lautet die Diagnose der serbischen Historikerin Dubravka Stojanovic. Statt Herdenimmunität zu erreichen, haben wir eine Herdendemokratie bekommen.

Veröffentlicht am 9 Juni 2020 um 09:00
Der serbische Präsident Aleksandar Vučić in einer virtuellen Wahlkampfkundgebung während der Abriegelung des Covid-19 am 16. Mai 2020.

Die medizinische Forschung kämpft darum, alle Geheimnisse und Wirkprinzipien des Coronavirus aufzudecken. Das Coronavirus hingegen hat die Geheimnisse und Wirkprinzipien vieler Regime vollständig enthüllt. Es wirkte wie eine Art von blow up, in dem all das hervortrat, was wir schon lange vor Augen hatten, aber nicht sehen wollten. „Der unsichtbare Feind“ hat die politischen Verhältnisse sichtbar gemacht. Als allererstes hat er vorgeführt, wie wir mit Freiheiten umgehen, wenn eine Krise auftritt, und wie schnell die Freiheit zum Ballast wird, wenn wir uns in Bedrängnis sehen.

Die Pandemie hat gezeigt, wie nah sich scheinbar weit voneinander entfernte Regime stehen, und zwar genau die, deren propagiertes Selbstbild auf ihrer Einzigartigkeit und Einmaligkeit gründet. Von Xi Jinping und Wladimir Putin über Viktor Orbán und Aleksandar Vučić bis hin zu Boris Johnson, Donald Trump und Jair Bolsonaro waren die ersten Reaktionen auf das Virus sehr ähnlich – zunächst verschwiegen sie alle den Ernst der Lage, dann verlachten sie das Virus mit den Worten, gerade »uns« könne es doch überhaupt nichts anhaben, denn „wir“ würden andere Maßnahmen ergreifen als der Rest der Welt.

Als dann die rasch ansteigende Sterblichkeitsrate ihre vormals unerschütterliche Haltung ins Wanken brachte, begannen einige von ihnen, ganz besonders radikale Maßnahmen zu verordnen - wohl auch, um ihre Einzigartigkeit zu wahren. Nun bot ihnen die Pandemie eine willkommene Gelegenheit, den Bürgern die Hände zu binden und ihnen den Mund zu verbieten. Ihre strahlenden Gesichter auf Pressekonferenzen zeugten davon, dass für sie eine gute Zeit angebrochen war und sie mit Wonne ihre Launen zum System erhoben, kurz gesagt: sich selbst alle Freiheiten gaben. In dieser Art Wettbewerbsdisziplin war es Viktor Orbán, der sehr viel Aufmerksamkeit in der europäischen Öffentlichkeit erregte, während der Herrscher meines Landes, Aleksandar Vučić, unter dem Radar geblieben zu sein scheint.

In den ersten Tagen der Pandemie stand Vučić lachend hinter Ärzten, die behaupteten, es handele sich um „das albernste Virus der Welt, das nur auf Facebook existiert“, und die serbische Frauen dazu aufriefen, zum Shoppen nach Mailand zu fahren, da im Lockdown die Schuhe sicher viel billiger seien. Doch dann führte Vučić eine Reihe von Maßnahmen ein, wie es sie in keinem anderen Land gab. Den Ausnahmezustand rief er im Alleingang aus, ohne das Parlament einzubeziehen und damit im Widerspruch zur Verfassung. Auf den Straßen waren nun schwer bewaffnete Soldaten zu sehen. Für Menschen über 65 galt ein vollständiges Ausgehverbot.

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Trinken von Sliwowitz

Es wurde eine tägliche Sperrstunde von 12 Stunden eingeführt (von 17 Uhr bis 5 Uhr). An den Wochenenden herrschte eine totale Ausgangssperre und zu Ostern erreichte dieses absolute Verbot, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, mit einer Dauer von 84 Stunden seinen Rekord. Die Arbeit des Parlaments wurde ausgesetzt. Eine Journalistin, die über die schlimmen Zustände in den Krankenhäusern schrieb, wurde verhaftet, ebenso wie eine Rock-Sängerin wegen eines unerwünschten Liedes. Die Pressekonferenzen des Krisenstabs wurden schließlich abgesetzt und Fragen zur Pandemie als Verrat deklariert. Mal sagte Vučić, die Pandemie könne uns nichts anhaben und wir könnten uns durch das Trinken von Sliwowitz davor schützen, ein andermal wiederum, es würden so viele von uns sterben, dass kein Friedhof groß genug wäre. Die radikalen Maßnahmen änderten sich fast jeden Tag, Rechte wurden verliehen und wieder außer Kraft gesetzt.

Regierungsnahe Boulevardblätter verbreiteten bereitwillig Falschmeldungen und Verschwörungstheorien, die all dem, was der Krisenstab mitgeteilt hatte, widersprachen. Alles wurde darangesetzt, die Bürger völlig zu verunsichern, um die Sehnsucht nach einem Anführer zu wecken, der mit harter Hand die Geschicke steuert.

Dieses Vorgehen der Regierung kam nicht überraschend. Wirklich aufschlussreich ist jedoch, wie die Bevölkerung mit ihren Freiheiten umgegangen ist. In einem Großteil der Länder sind die Zustimmungsraten zu den Maßnahmen der Regierungen angestiegen. Dies gilt für das Rating jener, die vernünftige und effiziente Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung eingeführt haben, es gilt aber ebenso auch für jene, die die Gelegenheit missbraucht und die Freiheiten der Bürger außer Kraft gesetzt haben, während sie zur gleichen Zeit mit Rekordzahlen von Erkrankten und Toten konfrontiert waren – wie beispielsweise in Serbien, das die strengsten Sicherheitsmaßnahmen in der gesamten Region eingeführt hatte, zugleich aber mehr als doppelt so viele Infektionsfälle aufwies wie die anderen Staaten des ehemaligen Jugoslawien.

Die Menschen scharten sich um ihre Anführer und überließen ihre Freiheiten jenen, die mehr mit ihnen anzufangen wussten als sie selbst. Die Gemeinschaft rottete sich zusammen, als ob sie einem Instinkt folgte, und die Oppositionsparteien, jedenfalls in Serbien, vergaßen ihre Pflicht und Schuldigkeit gegenüber den Bürgern und erklärten, jetzt sei nicht der richtige Moment, um von Politik zu reden.

Selbsternannte Kapos

Sehr schnell passten viele Bürger ihr Verhalten den außergewöhnlichen Umständen an. Vielen kamen die neuen Verhältnisse sehr gelegen, um das staatliche Gewaltmonopol in die eigenen Hände zu nehmen. Sobald sich vor den Geschäften Schlangen bildeten, gab es selbsternannte Kapos, die ihre frisch errungene Macht lautstark durch Brüllen, Befehle und Einschüchterungen demonstrierten. Nicht der Ordnung wegen, sondern aus purer Lust. Selbst ernannt haben sich auch diejenigen Aufseher, die mit dem Finger auf Menschen über 65 zeigten, sie aus den Geschäften hinauswarfen und nach Hause schickten. Die Polizei berichtete in ihren Protokollen, dass fast alle Anzeigen gegen über 65-Jährige wegen Verstößen gegen die Ausgehverbote von deren Nachbarn erstattet wurden. Klingt das bekannt?

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Seite an Seite mit diesem alltäglichen Trottoirfaschismus konnte man auch eine scheinbar völlig entgegengesetzte Erscheinung beobachten. Kehren wir auf die globale Ebene zurück. Unmittelbar nach der Lockerung der Maßnahmen kam es vielerorts zu einem nahezu ausgelassenen Verhalten der Bürger. Sie tummelten sich in Cafés, Parks und an Stränden, als sei die Gefahr überwunden und könnte jetzt auch nicht mehr wiederkehren. Bei Regelverstößen auf geheimen Partys wurden sowohl bosnische Politiker als auch deutsche Polizisten erwischt, die Bürger Griechenlands übervölkerten die gerade erst eröffneten Strände. Sogar die schwedische Regierung war vom verantwortungslosen Verhalten der Bürger überrascht, die sorglos in die Cafés strömten, weshalb sie gezwungen war, Teile ihrer auf Vertrauen basierenden Politik aufzugeben.

Es kommt Ihnen vielleicht so vor, als ob ich hier über ganz unzusammenhängende Erscheinungen schreibe? Das glaube ich nicht. Im Gegenteil. Ich glaube, dass genau das die verschiedenen Gesichter dessen sind, was wir illiberale Demokratien nennen. Diese Regime sind in der Tat verschieden, aber die Art und Weise, wie sie Freiheiten handhaben, ist ihnen gemein. Und just in diesem Punkt treffen sich Regierung und Bürger. Die Machtdistribution von oben nach unten verlief mit hoher Geschwindigkeit. Die Außerkraftsetzung der institutionellen Ordnung wurde von den Bürgern begrüßt, als Befreiung von der eigenen Verantwortung.

Die Nichtachtung des Gesetzes seitens der Regierung verstanden sie als Wink, dass nun alle Fesseln gefallen sind. Nachdem ihnen die bürgerlichen Rechte weitgehend genommen worden waren, ergriffen viele jede Gelegenheit, mit den ihnen verbliebenen Freiheiten zu machen, was auch immer sie wollten. Das Aussetzen aller Regeln seitens der Regierung nutzten die Bürger so als einen Freibrief, jetzt von aller Verantwortung füreinander entbunden zu sein. Beide Seiten nahmen sich von der Freiheit das, was sie gerade gebrauchen konnten – so lange, bis sie auch daran das Interesse verloren. Sie benannten den Feind (China, Soros, Juden, Migranten, 5G, Bill Gates…), der schuld an der Seuche war, um dann mit aller Macht in einen Rachefeldzug zu ziehen.

Sie beriefen sich auf die Wissenschaft, wenn es ihnen in den Kram passte, und verlachten sie, wenn ihre Ergebnisse ungelegen kamen. Sie zerrütteten jede Autorität, stellten alles in Frage, produzierten und verbreiteten den totalen Verdacht, um Vertrauen, Gemeinschaft und Solidarität zu vernichten. Indem die Bürger sich auf dieses Spiel einließen, trugen auch sie zur Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnungen bei, zur Herstellung verängstigter und unsicherer Individuen, die sich nach jemandem sehnten, der mit der Faust auf den Tisch haut. Corona hat gezeigt, wie brüchig die Freiheiten sind und wie wenig es bedarf, damit sie verlorengehen. Zur allgemeinen Zufriedenheit.

Wir haben keine Herdenimmunität erreicht, stattdessen aber eine Herdendemokratie. Wie es scheint, müssen wir noch einmal von vorn anfangen.

Dieser Artikel ist Teil des Debates Digital-Projekts, einer Reihe digital veröffentlichter Inhalte, darunter Texte und Live-Diskussionen von einigen der herausragenden Schriftsteller, Wissenschaftler und öffentlichen Intellektuellen, die Teil des Debates on Europe-Netzwerks sind. Eine Online-Diskussion mit den Autoren findet am 16. Juni um 19.00 Uhr MESZ statt und wird auf YouTube gestreamt.

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