„Hey kids, dismantling the state is great fun.“ David Cameron in einer Grundschule in Calverton, Midlands, Mai 2010.

„Big Society“, der große Reinfall?

Mit dem Kernstück seiner Politik will David Cameron die große Regierung durch lokale Gemeinschaftsinitiativen ersetzen, doch heute erkennt er, dass man mit dem Kürzen von Staatsausgaben auch die Wurzeln der bürgerlichen Gesellschaft angreift.

Veröffentlicht am 16 Februar 2011 um 16:53
„Hey kids, dismantling the state is great fun.“ David Cameron in einer Grundschule in Calverton, Midlands, Mai 2010.

Neun Monate nach seinem Amtsantritt als Premierminister setzen nun die Streichungen in Höhe von 81 Mrd. Pfund (96,7 Mrd. Euro) ein. Das anspruchsvolle Haushaltsexperiment – die Ausgaben wurden so stark zusammengestrichen wie noch bei keiner anderen Wirtschaftsmacht – wurde in der ganzen Welt von Falken angespornt, vom Internationalen Währungsfonds bis zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Doch im The Bell, einem Pub auf Camerons heimischem Terrain, wallt wohlerzogener Zorn auf. Der Auslöser dafür? Die bevorstehende Schließung der Bibliothek in Charlbury, die in einem schönen Bau aus dem für die Städte und Dörfer im Wahldistrikt des Premierministers so typischen gelben Cotswoldgestein untergebracht ist.

Rosalind Scott, 69, eine bebrillte ehemalige Sozialarbeiterin mit dunkelroter Strickjacke, ist ebenso resolut gegen Camerons Sparhaushalt wie die Studenten, die letztes Jahr in der Londoner Stadtmitte verheerenden Schaden anrichteten, als sie gegen die Kürzungen der Hochschulfinanzierungen protestierten. „Die Bibliothek ist für unsere Gemeinde ganz unverzichtbar“, sagt sie. „Wenn man eine Bibliothek verliert, dann verliert man einen Ort, an dem die Leute zusammenkommen.“ Am 12. Februar organisierte Scott eine Protestaktion, zu welcher 200 Menschen erschienen. Ähnliche Ereignisse finden im ganzen Land statt, während Cameron seinen Plan A vorantreibt – er sagt, einen Plan B gebe es nicht –, um das strukturelle Defizit des Nationaleinkommens innerhalb von vier Jahren um 4,8 Prozent zu bereinigen.

Das Großbritannien der „kleinen Einheiten“

Die Proteste in der Kleinstadt Charlbury sind unheilverkündend für Cameron, und dies nicht nur, weil sie etwas in Gang setzen, das sich voraussichtlich als weit verbreiteter Protest gegen die Kürzungen in Mittelengland, der Hochburg der konservativen Partei, entpuppen wird. Sie sind auch eine direkte Herausforderung an das Antidotum des Premierministers gegen den schrumpfenden Staat, also seine vielgerühmte große Idee: die Big Society.

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Der Premierminister versucht seit einigen Jahren, das Land zu seiner Leidenschaft für ein Großbritannien zu bekehren, das auf den „kleinen Einheiten“ [des irischen Philosophen] Edmund Burke beruht. Dieser Ansicht zufolge sollen sich freiwillige Gruppen, Gemeindeverwalter im Obama-Stil, soziale Unternehmen und Wohltätigkeitsorganisationen einschalten, um den sich zurückziehenden Staat zu ersetzen und dabei mehr Kontrolle über öffentliche Dienstleistungen übernehmen, was von Bibliotheken über Forstwirtschaft bis zu öffentlichen Toiletten reicht.

Cameron weiß jedoch, dass die Öffentlichkeit von seiner Idee nicht begeistert ist. Er versuchte letztes Jahr, die Big Society zum Kernstück der Kampagne für die Parlamentswahlen zu machen, doch nachdem die Umfragen zeigten, dass die Wähler alles andere als beeindruckt waren, wurde sie stillschweigend fallen gelassen.

Skepsis bis ins eigene Lager

Sogar manche seiner eigenen konservativen Abgeordneten verzweifeln an dem Konzept. „Die Big Society erzeugt nur eine Menge Zynismus – die Öffentlichkeit sieht sie als Vorwand für die Kürzungen“, beschwert sich einer von ihnen. „Wir versuchen zwar, ihr neues Leben einzuhauchen, doch der Patient lässt sich nicht wiederbeleben.“ Die Skepsis reicht bis in den Kern der Regierung. Die Beamten haben dem Konzept den Spitznamen „BS“ verpasst [– das doppeldeutige BS kann für „Big Society“, aber auch für „bullshit“, also „Schwachsinn“, stehen].

„Ich finde, die Idee der Big Society ist eine Frechheit“, empört sich Barbara Allison, eine pensionierte Finanzchefin, und erklärt, es gebe in Charlbury bereits 54 lokale Organisationen, die etwas für die Gemeinschaft tun, wie etwa Essen auf Rädern. „Wir wenden schon eine ganze Menge unserer Zeit für Wohltätigkeitsorganisationen und ehrenamtliche Arbeit auf. Ich gehöre zur Leitung des Museums von Charlbury. Ich mache wohl noch nicht genug? Wird sich denn David Cameron ehrenamtlich betätigen?“

Da die Einkommen der Familien heute eine Verknappung erleben, wie es seit den 1920er Jahren nicht mehr der Fall war, glauben viele, dass die Briten sich mehr darum sorgen, wie sie über die Runden kommen, als ihre Freizeit damit verbringen zu wollen, die durch die Ausgabenkürzungen im öffentlichen Bereich verursachten Löcher zu stopfen.

Die British Toilet Association auf den Barrikaden

Camerons Glaube an die Big Society wird in den kommenden Monaten seiner schwersten Prüfung unterzogen, nämlich dann, wenn das Kürzungsprogramm richtig anläuft. Die Konfrontation mit den Studenten über die mögliche Verdreifachung des Studiengebühren, Ende 2010, war nur der Anfang. Die zweite Welle wird einsetzen, wenn die Kommunalräte damit beginnen, Einrichtungen zu schließen, von denen viele Menschen abhängen.

Der Stadtrat von Liverpool ist aus einem Pilotprogramm ausgestiegen, unter der Begründung, er könne es nicht durchziehen und gleichzeitig die Kürzungen der Zuschüsse für lokale Organisationen um 100 Millionen Pfund (119,4 Mio. Euro) einstecken. Leiter von Wohltätigkeitsverbänden, Gemeindevorsitzende und Gewerkschaftschefs sind angetreten, um dem Premierminister mitzuteilen, dass sein Sparpaket für die Ausgaben der Gemeinden die Big Society sehr wohl im Keim ersticken könnte.

Die Bevölkerung wird immer unruhiger, seitdem die Gemeinderäte die Streichungen umsetzen. In Manchester beschloss der Stadtrat letzte Woche, alle öffentlichen Toiletten – bis auf eine – zu schließen: eine Tendenz, im Rahmen welcher landesweit schon rund tausend stille Örtchen zumachten, wie die bislang wenig bekannte British Toilet Association verkündete. Die Stadt wird auch drei Freizeitzentren, zwei Schwimmbäder und fünf Bibliotheken schließen. Das Betreiben von Jugendzentren wird an „externe Partner“ übertragen und später womöglich ganz eingestellt.

Passt die Big Society wirklich zur britischen Mentalität?

Angesichts der Behauptungen, die Big Society könne ohne effektive Unterstützung des öffentlichen Sektors nicht florieren (die Gemeinden sollen innerhalb von vier Jahren 27 Prozent ihrer Hauptzuschüsse verlieren), wird David Cameron seine Idee nächste Woche noch einmal neu einführen. Er braucht dazu eine Beschreibung, die beweist, dass seine Regierung auch eine fürsorgliche Seite besitzt. Er wird also betonen, dass die Big Society den britischen Instinkten entspricht und dass Selbsthilfe und Philanthropie mit der traditionellen Denkweise der Torys im Einklang stehen. Das wird schwer an den Mann zu bringen sein.

Vorerst steht Cameron auf dem falschen Fuß, insbesondere was den Plan betrifft, staatseigenen Forstbesitz abzustoßen. Der Vorschlag, neben einer weiteren Privatisierung auch Waldgebiete an die Gemeinden zu übertragen, konnte eine gegen diese Veräußerung eingestellte Koalition von Bischöfen, Schauspielern, Parlamentsabgeordneten sowie einen breiten Landstrich Mittelenglands nicht beschwichtigen.

Die pensionierte Bürokauffrau Liz Searle verkörpert Camerons Vision der Big Society in Aktion, im Bereich von Großbritanniens grünen Waldwiesen: Sie ist das für Mitgliederangelegenheiten zuständige Vorstandsmitglied der Friends of Chopwell Wood, einem ehrenamtlichen Verein, der 360 Hektar Wald in der Nähe von Gateshead im Nordosten Englands verwaltet.

Trotz der Gespräche über einen Rückzug der Regierung rechnet sie am Sonntag mit 1000 Demonstranten gegen den Verkauf von Waldgebieten. In einem landesweit eingeübten Streit werden sie Anspruch darauf erheben, dass die Big Society nur funktionieren kann, wenn der Staat ihr zur Seite steht. „Um zu tun, was getan werden muss, brauchen wir Vollzeitmitarbeiter. Wir brauchen die Hilfe der [staatlichen] Forstkommission“, sagt sie. „Wir machen weiter Druck.“

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

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