Nachrichten Endstation für den Euro 4/4

Endspiel in Shanghai

Vierter und letzter Teil der Fiktion von Le Monde. Nach wochenlanger Recherche schafft es eine Journalistin des Wall Street Journal, die Quelle des Dokuments, welches die Eurozone erschüttert und weltweit die Börsen in Panik versetzt, zu interviewen.

Veröffentlicht am 17 August 2011 um 14:58

Sonntag, 10. Juni 2012, 9 Uhr früh, Shanghai. Alice J. Singer sitzt in der Lobby des Hotels Sofitel und beobachtet das Kommen und Gehen der Geschäftsleute aus Brasilien, den Vereinigten Staaten, Korea. Die Business-Welt entfaltet sich unter ihren Augen. Das Dekor ist banal. Wären da nicht die exotischen Gesichtszüge der meisten Besucher, könnte sie sich genauso gut in einem Hotel in Franfurt am Main wähnen, wo sie seit Kurzem hinversetzt wurde.

Die ersten Monate dort waren für sie stinklangweilig, bis sie Matt kennenlernte. Der Börsenmakler von Goldman Sachs hatte es geschafft, sich dieser provinziellen Stadt anzupassen, ohne seinen New Yorker Humor zu verlieren. Er war es auch, der ihr die Tore der Stadt geöffnet hat. Und der ihr zum ersten Mal von „Ingo“ erzählte. „Er besteht darauf, unbedingt mit dem Korrespondenten einer großen englischsprachigen Zeitung zu reden“, hatte er ihr gesagt. Drei Wochen ist das her.

Zweimal hatte sie mit „Ingo“ gesprochen. Zunächst erschien er ihr paranoid. Vorsichtig wie ein Indianer war er. Doch Matt sollte Recht behalten: Die Sache lohnte sich. Sie hatte die Quelle des Tsunami gefunden, gegen den die EZB seit mehreren Wochen ankämpft. Sie traute ihren Ohren nicht. Zum dritten Termin war Ingo dann nicht erschienen. Am übernächsten Tag hatte sie eine Nachricht aus Shanghai erhalten. „Ich rede nur mit Ihnen und nur face-to-face.“ Sie hatte genügend Erfahrung, um ihren Chefredakteur zu überzeugen, sie nach China zu schicken, um den Informanten zu treffen. Deshalb war sie an diesem Sonntagmorgen 9000 Kilometer von ihrem Arbeitsplatz entfernt.

- Alice ?

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- Morgen, Ingo. Welch eine Überraschung !, sagt sie lachend.

- Gehen wir spazieren.

Der Verkehr draußen ist höllisch laut. Sie gehen in einen Park.

„Ich habe immer noch nicht begriffen, was Sie veranlasst hat, dieses anonyme Arbeitspapier zu verfassen, das Sie mir gezeigt haben, Ingo. Warum schreiben Sie eigenhändig einen falschen Koalitionsvertrag zwischen CDU-CSU und FDP?“

„Eine Idee von Markus, einem Kumpel, der bei einem Hamburger Rollenspiel-Verlag arbeitet. Er war eines Abends in Frankfurt auf der Durchreise, und da habe ich ihm erzählt, was ich den ganzen Tag so treibe, nämlich Simulationen mit Johannes einem Kollegen von Reuters, zu entwickeln. Er war begeistert und hat mir gesagt: „Mach doch mal ein Spiel über Politik und Hochfinanz. Merkels Sturz und so. Ich gebe das meinem Boss und ihr lande einen Bestseller.“ Ich rief sofort Johannes in London an und wir haben am selben Abend angefangen, Material zu sammeln. In dem Augenblock hab ich mir diesen Koalitionsvertrag ausgedacht. Und ich hab sogar den Hunderter entwickelt mit Adenauerporträt und Kanzleramt.“

Mehrere Wochen lang spielen die beiden die Demiurgen. Sie entwickeln Szenarien, simulieren Börsencrashs, schicken sich Texte und Dokumente im PNG-Format. Als Ingo am 19. Mai die Nachricht auf Spiegel-Online entdeckt, erkennt er sofort in dem Koalitionsvertrag, der dem Artikel angehängt ist, sein Werk wieder.

„Ab dem Moment habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen. Ich habe nicht begriffen, wie Dokumente auf die Seite von Spiegel-Online gelangen konnten. Und vor allem nicht, warum die als authentisch präsentiert wurden.“

- Niemand hatte Sie angerufen?

- Niemand.

- Wie konnten das dann durchsickern?

- Hacker vermutlich. Wir waren überhaupt nicht vorsichtig. Für uns war das ja alles nur ein Spiel.

Vor ihrer Abreise aus Europa hatte Alice mit Johannes in London gesprochen. Er hatte sie auf die Fährte eines seiner Kollegen gebracht, der für einen Hedge Fond arbeitet. Irgendjemand hatte offensichtlich seinen Ordner manipuliert, in dem er die falschen Dokumente aufbewahrte. Zwischenzeitlich ist er ganz verschwunden.

- Als das herauskam, bin ich zur Polizei gegangen, doch Johannes hatte mir gesagt: „Vergiss es. Sie werden dich für einen beknackten Lügner halten.“

- Nun werden Sie möglicherweise für die Manipulation zur Rechenschaft gezogen werden.

- Hier bestimmt nicht.

- Sie wollen nicht mehr zurück?

- Um zu sehen, wie die Sache auffliegt? Nein danke.

Alice hat nun alle Teile des Puzzles in der Hand. Sie ist vor allem nach Shanghai gekommen, um diese letzte Aussage aufzunehmen und einen USB-Stick mit den versprochenen Dokumenten nach Hause zu bringen.

- Danke, sagt sie und steckt den Stick in ihre Handtasche.

Sie weiß nun mehr als Ingo. Dank eines Informanten bei einer Londoner Tageszeitung, konnte sie erfahren, dass der Chef des Hedge-Funds, für den Johannes’ Freund arbeitet, die Dokumente dem Foreign Office und dem MI6 übermittelt hat. Die CIA, zuerst skeptisch, schenkte der Sache nach Rücksprache mit Agenten in deutschen Politikkreisen letztlich auch Glauben

Um zehn Uhr ist Alice im Hotel Ibis zurück. Ihr bleiben zwei Stunden, um ihren Artikel zu schreiben. Sie hat New York ihren Artikel für 12 Uhr Shanghai-Zeit versprochen. Dann wird es erst Samstag, zwanzig Uhr, an der amerikanischen Ostküste sein. Der Gedanke, dass man ihren Artikel in Frankfurt oder Paris erst Sonntagmorgen lesen wird, also zur selben Zeit, zu der sie das Interview mit Ingo führte, macht sie ganz trunken. Ihr war nicht bewusst, dass die Chinesen elf Stunden „Vorsprung“ hatten.

Sonntag, 10. Juni 2012, 19 Uhr, Shanghai. Alice checkt für den nächsten Flug nach New York ein. In Paris ist es acht Uhr morgens. Der französische Landwirtschaftsminister geniest ein paar Stunden Ruhe in seiner Pariser Wohnung. In wenigen Stunden wird er nach Evreux fahren, um dort in Begleitung seiner Gattin und seines Sohnes seine Stimme bei den Parlamentswahlen abzugeben. Er muss sich um seinen Sitz keine Sorgen machen.

Er kramt in dem Stapel der Wochenendzeitungen, die ein Gendarm mit Motorrad bei ihm Zuhause abliefert. Die Schlagzeilen drehen sich um das Risiko eines Anstiegs des Front National und um die geplante Übernahme der Société Générale durch JPMorgan. Angewidert greift der Abgeordnete zum Wall Street Journal.

„Geheimdokument ist Fälschung“.

Von unserer Sonderkorrespondentin in Shanghai, Alice J. Singer.

„Die angebliche Verschwörung gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel, welche einen spektakulären Sturz der Aktienmärkte verursachte, ist in Wirklichkeit eine Erfindung. Das verhängnisvolle Gerücht entstand im Büro eines Frankfurter Börsenmaklers. Eine ganze Reihe von unglaublichen Zufällen hatten zur Folge, dass das Gerücht von den höchsten Stellen der europäischen und amerikanischen Geheimdienste akkreditiert wurde, bis es dann am 19. Mai zur „Enthüllung“ auf Spiegel-Online kam. Nur war das angebliche geheime Koalitionspapier, welches die deutsche Wochenzeitung veröffentlichte, eine Fälschung.... Das WSJ hat in Shanghai, wohin er geflüchtet ist, den Mann getroffen, der am Ursprung der Affäre steht, die Spanien beinahe in den Bankrott geführt hätte...“

Die ganze Story erstreckt sich über drei Kolonnen, gespickt mit den schockierenden Aussagen des Traders. „Die Affäre diente offensichtlich den Interessen mehrerer Hedge Fonds, die in den letzen Wochen ihre Positionen bei Leerverkäufen von Anleihen peripherer Euroländer und an den Börsen der exponiertesten Staaten stärken konnten. Die Investoren, die Zugang zu den Geheiminformationen der Kabinette hatten, wären leer ausgegangen, hätte es nicht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai gegeben, die die Kurse abstürzen ließen. „Ein ironischer und unmoralischer Zufall“, kommentiert ein Analyst. Während die Informationen falsch waren, hat das Gericht in gewisser Weise die Richtigkeit ihrer Erwartungen bestätigt. Doch kam die Entscheidung etwas zu früh, was die Gewinnspanne reduzierte. Allein die Firma von John Paulson, Paulson & Co, könnte im ersten Quartal einen Gewinn von mehreren Hundert Millionen Euro eingestrichen haben...“

Ende

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